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409Patriotische
Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation
Im Wien der Kongresszeit gründete Jacob Grimm, der als kur-
hessischer Legationssekretär an der Mächtekonferenz teilnahm, die
Wollzeilergesellschaft, die sich nach der Adresse des Gasthauses Stro-
belkopf benannte, wo sie ihren Stammtisch hielt. Zwei Gassen hinter
dem Stephansdom begann die Gesellschaft, Denkmäler des Rechts
und der Poesie zu sammeln, zugelassen waren nur »Arbeitsbienen«,
kein Bedarf bestand an »Ehrenmitgliedern«. Im Manifest der Woll-
zeiler heißt es, man wolle der bisher »mit schnödem Spott beworfe-
nen Weisheit« von »Sage, Lied und Spruch« durch die Bergung des
Schatzes uralter Überlieferung zu ihrem Recht verhelfen.252 Was hier
anklingt, ist jene wohlfeile postrevolutionäre Polemik gegen den »Ra-
tionalismus« und »Klassizismus« der Aufklärung, die nur allzu leicht
verschleiert, dass die »romantischen« Historiker bei ihrer Bearbeitung
der Rechtsaltertümer massiv von der Sprachpflegetätigkeit und Sam-
mellust der Aufklärer profitierten: So konnten diese Romantiker auf
dem Editions- und Kanonisierungseifer des spezifisch zentraleuro-
päischen Klassizismus aufbauen, der dank der Sozialstruktur seiner
Träger – maßgeblich gestaltet wurde er von Dorfpfarrern und Güter-
verwaltern, Landadvokaten und Kleinadeligen – weit empfänglicher
für volkstümliche oder für volkstümlich gehaltene Stoffe war, als sein
westeuropäisches Pendant.253
Auch darf der romantische »Organizismus« der Rechtshistoriker
nicht plakativ als Absage an die Aufklärung verstanden werden. Die
Rechtshistoriker der Restaurationszeit arbeiteten weiterhin mit den
älteren, der Aufklärung einverleibten heilsökonomischen Konzepten
der Natur, wie die Aufklärer auch betonten sie ihre Gutartigkeit,
organische Ganzheit, Vollständigkeit – die Natur, so heißt es auch
bei ihnen, kenne nichts Überflüssiges – und Zweckhaftigkeit.254 Die
Erforscher der Rechtsgeschichte engten aber das Wirkungsfeld die-
ser universalen Naturgesetzmäßigkeit ein: Durch diese Eingrenzung
wurde dem Rechts- und Sprachleben jedes »Volkes« eine solche natür-
252 Steffen Martus, Die Brüder Grimm. Eine Biographie, 2. Aufl., Reinbek bei
Hamburg 2013, 215. Vgl. oben III.5.
253 István Fried, Die Rezeption der Königinhofer Handschrift im 19. Jahr-
hundert in Ungarn, in: SSASH 14 (1968), 141-156, 141-142; Karel Krejči,
Klasicismus a sentimentalismus v literaturách východních a zapadních
Slovanů [Klassizismus und Empfindsamkeit in der Literatur der Ost- und
Westslawen] [1958], in: ders., Literatury a žánry v evropské dimenzi. Nejen
česká literatura v zorném poli komparatistiky, Praha 2014, 161-176.
254 Schlanger, Les métaphores de l’organisme, 28-30, 42-45; Stolleis, Geschichte
des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 123-126.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513