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420 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Während sich die Rechtshistoriker also um die Wiederentdeckung
der ursprünglichen Freiheit der eigenen Nation bemühten, warfen
die Naturrechtler und Junghegelianer einander vor, dass ihre Er-
kenntnismethoden die liberalen politischen Ziele konterkarierten, die
sie angeblich verfolgten. Berger und Heyßler sahen die exegetische
Schule als Instrument der »Reaction«. Sie hatte durch den Zeiller’schen
Lehrplan dafür Sorge getragen, dass die Juristen sich – nach Jaroslav
Hašek – mit dem »maßvollen Fortschritt im Rahmen des gesetzlich
Erlaubten«284 begnügten. Die Junghegelianer machten Vernunft und
Geschichte zu subsidiären Quellen für die Erkenntnis des »Geistes«
und der »Sittlichkeit«. Die Anhänger des Naturrechts hielten mit ihrer
Kritik an den Junghegelianern ebenfalls nicht hinter dem Berg. Sowohl
die historische Rechtsbetrachtung als auch die Ergründung der Fort-
schritte des Weltgeists galt ihnen als fragwürdig. Beide untergruben
die auf Basis des ABGB begründete bürgerlichen Freiheiten, ließen
sich doch mithilfe »spekulativer« Operationen und geschichtlicher
Erbsenzählerei allerlei bereits beseitigte Ungleichheiten vor dem Ge-
setz neuerlich ins Leben rufen.285
Zudem war die Berufung auf den »Geist« und die »Geschichte« in
einem plurikulturellen Rechtsraum wie dem Kaiserstaat deshalb ver-
derblich, weil beide Muster ja die Entstehung eines Gemeinwesens auf
bürgerlicher Grundlage gefährdeten.286 Während die Junghegelianer
den Weltgeist bemühten, der den verschiedenen Völkern unterschied-
liche Rollen im historischen Prozess der Rechtsentwicklung zugedacht
hatte, kramten die Rechtshistoriker aus der Geschichte Präzedenz-
fälle hervor und ordneten sie in angeblich eigenständige »nationale«
Überlieferungen ein, ohne die Stringenz oder Zwangsläufigkeit dieser
Entwicklung beweisen zu können. Dagegen hielten die Anhänger des
284 Jaroslav Hašek, Politické a sociální dějiny. Strany mírného pokroku v me-
zích zákona [Politik- und Sozialgeschichte. Die Partei für den maßvollen
Fortschritt im Rahmen des Gesetzes], Praha 1963.
285 Eduard Herbst, Aphoristische Bemerkungen über das Verhältniß des Ver-
nunftrechtes überhaupt, und insbesondere des natürlichen Privatrechts zum
positiven Rechte, in: ZföRg (1845) 1, 245-264, 250, Fn. 1, 257-258. Anton
Hye von Gluneck, Versuch einer gedrängten Lösung, in: Oberkofler, Rein-
alter (Hg.), Naturrecht und Gesellschaftsvertrag, 81, der darauf hinweist,
»[…] daß nicht alles Bestehende, deßwegen, weil es besteht, oder weil es
einen guten [recht
lichen] Zweck verfolgt, auch schon als rechtlich-beste-
hend zu betrachten ist, indem Zweck nicht Mittel heiliget, und die Zeit an
und für sich dem Unrechte nie – selbst nicht nach tausendjährigem Beste-
hen – die Weihe des Rechts zu geben vermag«.
286 Wildner von Maithstein, Auch noch ein Wort, 279-280.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513