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424 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
österreichischen Zivilistik »durch dicke Nebel verhüllt«296 geblieben,
ja das Naturrecht selbst gilt als »trügerisches Nebelgebilde«297, dessen
»überlebte Standpuncte«298 die österreichische Rechtslehre behindert
hätten. Als Gegengift, mit dem sich das vormärzliche Naturrecht ver-
tilgen ließ, galt Thun und seinen Mitarbeitern die Pandektenwissen-
schaft, die Friedrich C. von Savigny und Georg Friedrich Puchta an
den deutschen Universitäten etabliert hatten. Mit der Betonung des
historisch-positiven Rechtsmaterials fanden die Pandektisten bei Leo
Thun Gehör, dem ehemalige Schüler Savignys wie Anton von Salvotti
suggerierten, es handle sich bei der römischrechtlichen historischen
Schule um eine ebenso antirevolutionäre wie ausgereifte, allen An-
sprüchen der Wissenschaftlichkeit genügende Richtung.299
Leo Thuns wichtigster Gewährsmann war Joseph Unger, der zum
Begründer der österreichischen historischen Zivilistik römischer Prä-
gung werden sollte. Unger stammte aus ärmlichen Verhältnissen, seine
Eltern waren als jüdische Zuwanderer aus Westungarn nach Wien
gekommen und hatten mühselig eine dauernde Aufenthaltserlaub-
nis erworben. Als Philosophiehörer hatte sich Unger für Hegel und
die Revolution begeistert, diese Jugendsünden musste er schon bald
büßen, als er in den frühen 1850er Jahren seine Anstellung an der
Hofbibliothek verlor.300 Auf Empfehlung Anton von Salvottis, der
als Talentscout des Grafen Thun an den österreichischen Universi-
täten nach Hoffnungsträgern Ausschau hielt, sattelte Unger um, er
ließ die junghegelianisch inspirierte Philosophie hinter sich und warf
sich auf das Rechtsstudium. Unger wurde Thuns Zauberlehrling, der
im Alleingang die österreichische Pandektistik aufbaute. Unger, der
nach seinem Übertritt zum Katholizismus schon 1853 im zarten Alter
296 Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, 365.
297 Slapnicka, Beamtenausbildungsanstalten, 45.
298 Joseph Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, 6 Bde.,
Leipzig 1856-1864, Bd. I, 645.
299 Nikolaus Grass, Rudolf Kink. Der Geschichtsschreiber der Universität
Wien. Der Vorkämpfer der österreichischen Rechtsgeschichte, in: ders., Ös-
terreichische Historiker-Biographien, Bd. I, Innsbruck 1954, 227-268; ders.,
Francesco Schupfer und Tullius von Sartori-Montecroce als Rechtshistoriker
an der Universität Innsbruck, in: Hans Lentze, Peter Putzer (Hg.). Festschrift
für Carl Hellbling zum 70.
Geburtstag, Salzburg 1971, 195-258.
300 Salomon Frankfurter, Joseph Unger – Das Elternhaus – die Jugendjahre,
Wien 1917, 62-74; Franz-Stefan Meissel, Joseph Unger. Der Jurist als »poli-
tischer Professor«, in: Ash u. a. (Hg), 650 Jahre Universität Wien – Auf-
bruch in das neue Jahrtausend, Bd. II, Universität – Politik – Gesellschaft,
209-216.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513