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436 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Recht nicht durchsetzen, so gelangte doch für kurze Zeit die Lehre
von der subjektiven causa traditionis zur Herrschaft.343
Eifrig zerpflückte Unger die Vertrauenstheorie des ABGB, der er
die Willenstheorie entgegensetzte: Der eigentliche Wille des Erklä-
renden, nicht das berechtigte Gültigkeitsvertrauen des Empfängers
entscheide über die Nichtigkeit des Vertrages.344 »Ein Privatrecht im
subjectiven Sinn« hielt Unger in seinem sechsbändigen System des
österreichischen allgemeinen Privatrechts fest, »ist die von dem objec-
tiven Recht anerkannte Herrschaft des individuellen Willens«.345 Da-
gegen liest man in Zeillers Kommentar:
In dem äußeren, rechtlichen Verkehre der Menschen kann nicht das
Innere, und Verborgene, es kann nur das Äußere und Erkennbare
Norm des Rechts und Verhaltens seyn. Wer seine Einwilligung auf
eine so deutliche und unzweifelhafte Art geäußert hat, daß man
allgemein, und daß insbesondere der Mit-Contrahent die Erklärung
für eine wirkliche Einwilligung halten mußte, der wird auch mit
Recht hiernach behandelt, und auf seine Entschuldigung, daß er
anderes gedacht habe, keine Rücksicht genommen.346
Zeiller beharrte also darauf, dass die Freiheit der Vertragspartner, sich
im Rechtsgeschäft durch eine irrtümlich abgegebene Erklärung nicht
binden zu lassen, im Sinne der Vertrauenstheorie dort ende, wo die ge-
sellschaftliche Verkehrssicherheit in Gefahr gerate.347 Ungers Lehre,
die Vertragsfreiheit über Vertragsgerechtigkeit setzte, war subjekti-
vistischer als jene der exegetisch-naturrechtlichen Schule, die er aus
politi schen Gründen als »individualistisch« anprangerte. 1888 sollte
Unger in seinen Betrachtungen über Willensmängel und Irrtumsfol-
gen im österreichischen Privatrecht eingestehen, er habe sich »nur
mühsam von den Fesseln der romanistischen Schuldoctrin befreit und
343 Achill Rappaport, Über die Bedeutung des Titels für die Gültigkeit der Ei-
genthumsübergabe nach dem ABGB, in: Festschrift ABGB, Bd. II, 399-430.
344 Vgl. Franz Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des ver-
pflichtenden Rechtsgeschäfts, Wien 1967, 103; Unger, System, II, 44-55;
Exner, Rechtserwerb, 259, Anm. 10, 126, 176, 267, 270, Anm. 52.
345 Unger, System, I, 489.
346 Zeiller, Commentar, Bd. III, 39-40.
347 Zur Schadloshaftung und Verkehrssicherheit Gunter Wesener, Zeillers
Lehre »von Verträgen überhaupt«, in: Selb, Hofmeister (Hg.), Forschungs-
band, 248-268, 266-267, Klaus Luig, Franz von Zeiller und die Irrtumsrege-
lung des ABGB, ebda., 153-166.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513