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438 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
hervorgehoben, dass die dabei auftretenden Probleme – die persön-
liche Haftung der Gesellschafter für Gesellschaftsschulden – Unger
veranlassten, als Zwischenglied zwischen der Korporation und der
reinen Gesellschaft die »Gesellschaft mit formeller (collectiver) Per-
soneneinheit« einzuschalten, eine Konstruktion, die Unger aber schon
drei Jahre später wieder aufgeben musste. Generell, so Ogris, habe die
pandektistische Schule gerade in Bezug auf die juristische Person »alte
gemeinrechtliche Streitigkeiten« wieder aufgetischt, denen angesichts
der Fassung von § 26 »kaum tiefere Berechtigung« zuzusprechen sei.354
Die »Pandektenkur«, der das ABGB unterworfen wurde, führte zu
allerlei Konstruktionen, die den Kernintentionen der Kodifikatoren
zuwiderliefen. Dass das ABGB damit in ein neues Begriffskorsett
eingeschnürt wurde, ist auch für die Methoden der Ideengeschichte
relevant: hier zeigt sich in aller Schärfe die Interpolation von Überlie-
ferungszusammenhängen – Unger spricht von »ausdehnender Ausle-
gung« – und die rückwirkende Absicherung von eigenen Argumenten
durch adäquate ergänzte Subtexte. Als letztes Beispiel dafür sei hier
noch die Umdeutung von § 366 ABGB durch die Pandektisten erwähnt:
Der Schluss des Paragrafen verwehrt demjenigen eine Eigentumsklage,
»welcher eine Sache zur Zeit, da er noch nicht Eigentümer war, in
seinem eigenen Namen veräußert, in der Folge aber das Eigentum der-
selben erlangt hat«. Unger vermutete hier, der Gesetzgeber habe einen
Hauptfall der exceptio rei venditae et traditae im Auge gehabt, folgerte
daraus aber, »daß man für das österreichische Recht auf dem Wege der
ausdehnenden Auslegung dasselbe Resultat erreichen müsse, welches
im gemeinen Recht ursprünglich auf dem Wege der Rechtsfortbildung
gewonnen worden war«. Wie sich aber aus den Beratungsprotokollen
der Gesetzgebungskommission ergibt, ging es nicht um einen Einrede-
fall, sondern um eine Verneinung des Klageanspruchs infolge Konva-
leszenz des Erwerbs.355
Das Selbstwertgefühl der Pandektisten als Bahnbrecher einer
»historischen Betrachtungsweise« war ungetrübt. Wenn man ihre
dogmatische Technik unter die Lupe nimmt, wird rasch klar, dass
die reißerische Gegenüberstellung von »Vernunft« und »Geschichte«
wenig tragfähig ist. Der Theaterdonner der Universitätsreform hat in
der Historiografie lange nachgewirkt, der heldenmütige Kampf der
Pandektisten gegen das »Naturrecht« wurde wissenschaftsgeschicht-
lich ausgeschmückt. Dieses Schema entstand, weil Savigny und sein
354 Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, 367.
355 Ebda., 369.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513