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474 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
senden Staats reduziert.66 Dabei übersieht man allzu leicht, dass der
»Absolutismus«67 den Romantikern als von der Revolution untrenn-
bares Grundübel galt,68 dass ihre Staatsskepsis stellenweise geradezu
in Staatsverweigerung mündete.69 Gegen den »Absolutismus« ent-
wickelten diese Romantiker organizistische Entwürfe eines föderati-
ven Kaisertums, plädierten für die Erneuerung der ständischen Mit-
bestimmung und vertieften sich mit Vorliebe in die Geschichte der
germanisch-christlichen Rechtssphäre. Die Romantiker begriffen den
Staat eben nicht mehr als »Manufaktur«70 oder vertraglich begründete
Sozietät, sondern als vielstufig-belebtes Ganzes, in dem korporative
Freiheitsrechte gepflegt wurden.71 Das war den Josephinern ebenso
fremd wie ihren alten gegenrevolutionären Widersachern.
Hier zeigt sich schon die entscheidende Diskrepanz, die epochenbe-
stimmend wurde: Das zentrale Problem lag in der intellektuellen Ver-
quickung der Restauration mit der Spätaufklärung und damit mit der
angeblichen Quelle der Revolution. Nun waren es die romantischen
Anhänger der Restauration, die sich vom Absolutismus abzugrenzen
versuchten, während die aufgeklärten Josephiner, die in den 1790er
Jahren von den Gegenrevolutionären noch als abgefeimte Jakobiner-
freunde angegriffen wurden, nach 1800 die Rolle der Advokaten der
66 Katalin Gillemot, Gróf Széchényi Ferenc és becsi köre [Franz Graf Széchén yi
und sein Wiener Kreis], Budapest 1933, 14-73.
67 Reinhard Blänkner, »Der Absolutismus war ein Glück, der doch nicht zu
den Absolutisten gehört«. Eduard Gans und die hegelianischen Ursprünge
der Absolutismusforschung in Deutschland, in: HZ 256 (1993), 31-66.
68 Friedrich Schlegel, Signatur des Zeitalters [1820-1823], in: Kritische Fried-
rich Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, VII, Paderborn; München 1966,
483-598, 495, 512, 522. Vgl. Moritz Csáky, Franz Széchényis und Friedrich
Schlegels Schriften über den Zeitgeist. Ein Beitrag zur Ideologie des Konser-
vativismus und zu den österreichisch-russischen Beziehungen zu Beginn des
19. Jahrhunderts, in: Anna M. Drabek u. a. (Hg.), Rußland und Österreich
zur Zeit der Napoleonischen Kriege, Wien 1989, 163-180.
69 Vgl. Alexandra Aidler, Demokratie und das Göttliche. Das Phänomen der
Politischen Romantik, Würzburg 2012, 54-121; Matthias Schöning, Signa-
tur des Zeitalters, in: Endres (Hg.), Schlegel-Handbuch, 251-256, 253. Carl
Schmitts Ablehnung der deutschen »politischen Romantiker« gründet ge-
rade darin, dass mit ihnen kein Staat zu machen ist
– darum meint er, sie eines
liederlichen »subjektiven Occasionalismus« überführen zu können, Schmitt,
Politische Romantik [1919 /1924], Berlin 1968.
70 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 142.
71 Brian Vick, The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon,
Cambridge Mass. 2014, 159, 181 u. ö.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513