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478 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
dank dem Opportunismus und der Feigheit dieser »Gebildeten«, die
es, wie der Weimarer Kulturpolitiker Carl August von Böttiger 1799
an den jungen Wiener Orientalisten Joseph von Hammer schrieb, »vor
10 Jahren ganz anders und besser wußten«. »Vielleicht«, bemerkte
Böttiger in Anspielung auf Augustin Barruels verschwörungstheo-
retischen Bestseller Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme,
»sehen wir die Sache wirklich zu leichtsinnig«, hier notiert Hammer an
den Rand des Briefs: »Das glaube ich auch!«78
In der Habsburgermonarchie des frühen 19. Jahrhunderts ist die
katholische Kirche, nominell Stütze des Throns, des Einschleppens re-
volutionärer Umtriebe verdächtig, so rutscht der Katholizismus selbst
in das von ihm zuvor mit aufgebaute Freimaurer-Fahndungsprofil.
Das josephinische Thema der Territorialkirchlichkeit, gerichtet gegen
die »auswärtigen Oberen« der katholischen Orden,79 verband sich
seit der Illuminaten-Schnüffelei80 der 1790er Jahre mit der Suche nach
grauen Eminenzen und Schattenhierarchien. Jeder »Ordensmystizis-
mus« sei im Keim zu ersticken, heißt es anlässlich des von der Hof-
kanzlei abgelehnten Plans, einen konservativen antifreimaurerischen
Geheimbund zu gründen, mehr noch: zwischen den staatsgefährlichen
Cliquen musste eine verborgene Verbindung bestehen, entweder ko-
operierten sie im Geheimen oder sie hatten einander unterwandert.
Maria Ludovika, die dritte Frau von Kaiser Franz, vermutete gar in
Kardinalstaatssekretär Consalvi und im romantischen Literaten und
Prediger Zacharias Werner die geheimen Leiter des revolutionären
Tugendbundes.81
Die Wühlersemantik findet sich mit einer ganzen Palette von Latenz-
aggregaten im Schriftgut der Behörden. Herbert Matis hat in einem
78 Carl August Böttiger an Joseph von Hammer, Weimar, 14. 10. 1799, zit. n.
Walter Höflechner, Alexandra Wagner (Hg.), Joseph von Hammer-Purgstall.
Erinnerungen und Briefe, 3 Bde., Graz 2011, II, 584. Zu Barruel McMahon,
Enemies of the Enlightenment, 89-120.
79 Klaus Gottschall, Dokumente zum Wandel im religiösen Leben Wiens wäh-
rend des Josephinismus, Wien 1979, 30.
80 Pichler, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, I, 185, ebda., 206-207; Robert
Keil, Wiener Freunde 1784-1808, Wien 1883, 67 (Gottlieb Leons Brief aus
dem Jahr 1787 an Karl L. Reinhold über Weishaupts »Originalschriften«, die
in Wien »außerordentlich viel Sensation« machen).
81 Eugen Guglia, Kaiserin Maria Ludovica, Wien 1894, 172. Argwöhnisch ver-
folgt wurde in diesem Zusammenhang auch die katholische Agitation für die
Vereinigung Italiens unter päpstlicher Herrschaft und unter Ausschluss Ös-
terreichs, vgl. Josef Alexander von Helfert, Kaiser Franz I. und die Stiftung
des lombardo-venetianischen Königreichs, Innsbruck 1901, 289-290.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513