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479Zur
Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration
ausgezeichneten Beitrag darauf hingewiesen, dass die Herleitung der
Revolution aus umstürzlerischen »Ideen« für die Behörden der Mon-
archie kognitionsleitend wurde.82 Den »sittlichen Tiefstand« der Ar-
beiterschaft führte die Beamtenschaft nicht auf deren materielle Not
und soziale Entwurzelung zurück, sondern auf Ohrenbläser, welche
die »Ideen der Revolution« verbreiteten. Die österreichische Regierung
lobte die Segnungen des liberalen Privatrechts als Revolutions-Prophy-
laxe, da diese Rechte allen Ständen gleichermaßen zugänglich waren.
Wie lässt sich nun das Gepräge dieser behördlichen Binnenratio-
nalität erklären? Wie ich schon dargelegt habe, führte die allgemeine
Privatautonomie rechtsfähiger Subjekte auch zur optimierten Ver-
wertung materieller Ungleichheiten. Zugleich hatte das Privatrecht ja
eine vertikal wie horizontal einheitsstiftende Funktion, indem es die
Differenzen zwischen den Ständen und den einzelnen Ländern der
Monarchie allmählich nivellieren sollte. Dass sich im Quellenmaterial
der Behörden der Appell an das segensreiche liberale Privatrecht mit
dem Feindbild des demagogischen Aufwieglers verknüpfte, erschließt
sich aus der postrevolutionären Konstellation: Die Beamtenschaft
sorgte dafür, dass in den habsburgischen Ländern die Eigentumsum-
schichtung, welche die Französische Revolution erst ermöglicht hatte,
erfolgreich nachvollzogen wurde, während sie zugleich das liberale
Privatrecht als Schutzwehr gegen die Revolution pries.83 Die Dem-
agogentopik erfüllte also zwei Funktionen: Zum einen verbarg sie
die strukturellen Gründe für die Pauperisierung, indem sie die Un-
zufriedenheit landloser Tagelöhner und verelendeter Fabrikarbeiter
auf »sittliche« Missstände zurückführte, die wiederum von den ein-
sickernden Ideen ausländischer Agitatoren verursacht wurden. Zum
anderen diente sie als Entlastungsargument, das der Beamtenschaft
politischen Spielraum verschaffte: Indem die Beamten auswärtige
»Wühler«, Spitzbuben und Volksverführer am Werk sahen, versuch-
ten sie, ihre eigene antirevolutionäre Reputation abzusichern; zugleich
betonte sie die Loyalität der Bevölkerung, welche die Früchte des auf-
geklärten Rechtsstaats genoss.
Im behördlichen Schrifttum wurden die »Demagogen«, die sich
als Söldner der Revolution Einlass verschafften, den »gutgesinnten«
eingesessenen Untertanen gegenübergestellt. Statt die Ursache für die
82 Herbert Matis, Über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse öster-
reichischer Fabrik- und Manufakturarbeiter um die Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert, in: VfSWg 53 (1966), 433-467.
83 Kap. VI.3.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513