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486 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
Legitimationsinstrument: Wie sollte man die Monarchie vor dem Un-
tergang bewahren, deren Verwaltungsapparat und politische Prinzi-
pien unrettbar »josephinisch« waren?104
Im August 1821 erläuterte Friedrich von Gentz bei einem Spazier-
gang im Kurort Baden bei Wien dem Herausgeber der Monumenta
Germaniae historica Georg Heinrich Pertz, dass »Österreich einer
belagerten Festung« gleiche, welche »gegen den unter allen Gestal-
ten angreifenden Feind auf der äußersten Hut sein müsse.«105 War
diese Festung sturmreif, weil sich der »Feind« längst in ihr eingenis-
tet hatte? Ökonomen und Juristen bedienen sich der Metaphorik der
Burg,106 die der Revolution trotzte, in der aber die Sansculotten und
Zeitschriftsteller, die »Tendenzbären«107, längst alle Ämter übernom-
men hatten. Sehr schön hat diese Diagnose Carl F. von Hock im Jahr
1860 zusammengefasst. Hock, der aus einer Prager jüdische Familie
stammte und als Konvertierter in Wien ein brillanter Schüler des vor-
märzlichen Startheologen Anton Günther wurde, ist uns ja bereits als
liberal-katholischer politischer Ökonom begegnet.108 Hocks Essay
von 1860 verweist auf Alexis de Tocquevilles kurz zuvor erschienenes
Werk L’Ancien Régime et la Revolution. Tocqueville hatte für Frank-
reich die Kontinuität zwischen der durchstaatlichten Gesellschaft des
ancien régime und dem Zentralismus der Revolution herausgearbei-
tet.109 Diese Beobachtung übertrug Hock auf die Habsburgermonar-
chie des Vormärz:
A v. Tocqueville hat ein treffliches Buch geschrieben, worin er
nachweist, wie fast alles, was die Revolution Neues zu gründen
104 Bauer, Remarques sur l’histoire »du« ou »des« joséphismes.
105 Harry Breßlau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica, Hanno-
ver 1921, 100.
106 Zur Bedeutung der »Festungspraxis« der preußischen Bürokratie für ihre
Einschätzung der sozialen Verhältnisse und für die Verfolgung von Ruhe-
störern vgl. Lüdtke, »Gemeinwohl«, Polizei und »Festungspraxis«.
107 Heinrich Heine, Atta Troll. Ein Sommernachtstraum [1843], in: ders.,
Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. IV, München 1971, 563.
108 Vgl. Kap. V.6.
109 Heinrich Jacques, Alexis de Tocqueville, Wien 1876, 34, behauptet irriger-
weise, Tocqueville hätte den österreichischen Konservativen als »phantasti-
scher Neuerer« gegolten. Dagegen Paul Müller, Feldmarschall Fürst Win-
dischgrätz. Revolution und Gegenrevolution in Österreich, Wien 1934, 343,
Fn. 179, vgl. auch Leo Thun an Alexis de Tocqueville, 21. 10. 1839, zit. n.
Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz, 168. Vgl. die ausgezeich-
nete vollständige Edition v. Hana Fořtová, Doubravka Olšáková (Hg.), Lev
Thun
– Alexis de Tocqueville (Korespondence 1835-1856), Praha 2011.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513