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488 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
der politische Friede jener Länder stets über einem Vulcane gebaut
seyn, welchen der nächste Augenblick entfachen kann.112
An der Donau begann man denselben Ideen zu huldigen wie an der
Seine, so bemerkt Rauscher weiter anhand Kaunitz’ und Josephs II.:
Ein mächtiger und talentvoller Minister huldigte, wie den Moden so
auch den Grundsätzen, welche am Strande der Seine emporquollen;
ein geistreicher Monarch verwickelte sich in den Tagen der raschen
Jugend, welcher das Neue und Schimmernde so verführerisch ist,
in die listig gestellten Netze der angeblichen Philosophen, und der
Brief, worin Voltaire seinem Alembert mittheilt, der Kaiser sey
Einer der Ihrigen, ist längst zum Eigenthume der Presse geworden.113
Vor allem konservative Autoren wollten in der Monarchie Warn-
signale und Vorzeichen für die Revolution ausmachen, die ihnen aus
der französischen Vergangenheit bekannt waren. Wenn man von der
Verschränkung von Aufklärung, Absolutismus und Revolution aus-
ging, ließen sich solche Parallelen vorzüglich nachweisen.114
Welche Bedeutung besaßen die beiden vorgestellten Feindbilder?
Das bei der Beamtenschaft verbreitete Wühlerklischee, das auswärtige
Störenfriede (»Demagogen«) für die Unruhe der unteren Schichten
verantwortlich machte, erfüllte eine Sündenbockfunktion, es diente
der Externalisierung: Die Beamten zielten darauf ab, sich selbst als
aufgeklärten Reformern den notwendigen Spielraum zu verschaffen.
Ihre Arbeit am Rechtsstaat und an der liberalen Erwerbsgesellschaft
präsentierten sie als Beiträge zur aktiven Revolutionsprävention, zu-
gleich lieferten die Staatsdiener eine Erfolgsgeschichte der von ihnen
112 Gutachten v. 24. 6. 1836, zit. n. Max Hussarek, Die Verhandlung des Konkor-
dats vom 18. August 1855. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen
Staatskirchenrechts, in: AföG 109 (1922), 477-811, hier 683-685, 685-686.
113 Ebda., 686.
114 Dagegen argumentiert Metternich originell, indem er die historiografisch
eingeschliffene Abfolge von Ursache und Wirkung umkehrt: die »Autocra-
tie« sei als Antwort auf die Aufklärung entstanden, nicht etwa umgekehrt:
»[D]ie Fehler der Regierung Josephs
II. lagen […] endlich in autocratischen
Begriffen, welche eben damals im Kampfe mit Doctrinen entstanden, die
sich im letzten Jahrzehend des verfloßenen Jahrhunderts in Europa Luft zu
schaffen wußten, und durch den Umsturz der Französischen Monarchie,
die Ruhe aller Reiche auf eine nicht zu berechnende Zeitdauer, gefährde-
ten!« Vortrag Metternichs, 13. 6. 1841, zit. n. Hussarek, Die Verhandlung
des Konkordats vom 18. August 1855, 691.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513