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501Überblick
der konservativen Aufklärung entworfen. Der Kantianismus galt dabei
als Nährboden der Revolution, weil die kritische Philosophie das
Referenz- und Legitimierungsverhältnis zwischen den sozialen Insti-
tutionen und der Natur zerstöre. Das Programm antirevolutionärer
Wissenschaft in den habsburgischen Ländern besaß somit ein spezi-
fisches Gepräge: Anders als in Frankreich, wo die Mathematisierung
der Moral und des Sozialen als revolutionäres Übel zu gelten begann,
wurde die Naturerkenntnis in der Monarchie zur Bastion gegen die
Revolution. Die Naturforschung versprach die Bestätigung der ob-
jektiven Weltordnung und ihrer Gesetzmäßigkeiten, verzichtete dabei
aber gemäß dem newtonianischen epistemischen Programm auf die
Ergründung der letzten Ursachen und des ultimativen Zwecks der
Weltgesetze. Im antispekulativen Charakter und in der vermeint-
lichen sozialen Deutungsabstinenz dieses Wissensregimes lag seine
erwünschte Orientierungsleistung, die Erkenntnisstrategie des »Posi-
tiven« sollte als Stütze des status quo fungieren.
Diese Erwartung der Bildungsreformer um 1800 entpuppte sich als
Trugschluss. Die Resonanz der Kant’schen Philosophie wurde durch
das offiziöse Verdikt kaum geschmälert, zudem lagen unter der amt-
lich sanktionierten Präferenz für die Erkenntnis des »Positiven« meh-
rere selbstständige Traditionsstränge, die miteinander rivalisierten. Das
Kapitel hat dies anhand zweier konkurrierender Typen positiven Wis-
sens, der Bibelhermeneutik und der liberalen Physik, aufgezeigt: Wäh-
rend die liberalen Naturforscher sich als Alleinerben der Aufklärung
ausgaben, verschütteten die Bibelexegeten unter dem Eindruck der
verordneten Selbstprovinzialisierung des Katholizismus die Wurzeln
ihres Weltbilds und ihrer Methoden, die in der Aufklärung lagen. So
trugen beide zur Verfertigung eines Aufklärungserbes bei, das auf dem
Leitbild der rationalen Mechanik beruhte: Die Naturforscher taten
dies im Modus der Vermächtnispflege, während die Bibelhermeneu-
tiker sich säuberlich von dem so entstehenden Erbe abgrenzten und
damit die Aufklärung aus ihrer Ahnenreihe tilgten. Die Aufklärung
wurde zum geschichtsmächtig aufpolierten Erbstück der Naturfor-
scher, während die katholischen Schriftgelehrten auf ihren Anteil an
dieser Hinterlassenschaft verzichteten. Zugleich nutzten die liberalen
Naturforscher das restaurative Wissensregime, als dessen Sachverstän-
dige für das überzeitliche und ortlose Weltgesetz sie wirkten, um seine
politische Funktion auszuhebeln: Die empiriegesättigte, antispekula-
tive Erforschung des Weltganzen und seiner objektiven Gesetzmäßig-
keiten sollte ja Ehrfurcht vor der etablierten Ordnung einflößen und
stand deshalb seit den 1790er Jahren als antirevolutionäre Wissensform
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513