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509Überblick
zu untergraben. Plastisch aufzeigen lässt sich dies anhand der Figur
des »Gesellschaftsvertrags«.
Seit den 1780er Jahren hatten die adeligen Stände mit dem Mo-
dell des Gesellschaftsvertrags kokettiert, um der josephinischen Ent-
staatlichung der Länder Einhalt zu gebieten: Sie präsentierten sich
als Repräsentanten des Volkes, woraus sie das Recht ableiteten, Ge-
setzgeber ihres Landes zu sein. Die Französische Revolution machte
diesem Liebäugeln der erbadeligen Standesherren mit dem Szenario
der Volksrepräsentation rasch ein Ende. Die wenigsten adeligen und
geistlichen Herren waren bereit, Bürger und Bauern in großer Zahl
zu den Landtagen zuzulassen. In den 1790er Jahren schrumpfte der
Vertrag zunächst auf die Adelsrepublik, um dann durch ein anderes
Legitimationsmodell abgelöst zu werden: Nun leiteten die erbadeli-
gen Herren ihre korporativen Rechte aus ihrer Stellung als Grundei-
gentümer ab. So bestätigten die Stände die naturrechtlich inspirierte
Herleitung der Vorrechte, auf der ihre Souveränitätsteilhabe beruhte,
aus dem Grundeigentum. Damit leisteten sie der Umprägung dieser
Privilegien in privatrechtliche Verträge Vorschub. Die überwiegende
Mehrheit der ständischen Herren verstand sich um 1800 nicht mehr
als Repräsentanten des Volkes, stattdessen wollte sie das Volk vom
souveränitätsbegründenden Bodeneigentum fernhalten. Das war ange-
sichts der Liberalisierung des Liegenschaftsverkehrs ein vergebliches
Unterfangen, der im ersten Kapitel dargestellte Landespatriotismus
bot sich als erfolgsträchtige Alternative für den Adel an.
Während der Erbadel somit über das Vertragsmodell den Stab brach,
nutzten es die von den Ständen geförderten Landeshistoriker und pa-
triotischen Gelehrten gerade mit der Absicht, die Landesverfassungen
zu erneuern. Sie befreiten das Vertragskonzept vom Beigeschmack des
Martini’schen Lehrbuchs, lösten es also vom abstrakten Urvertrag, der
die Gesamtmonarchie stützte, und grenzten es von der Volkssouverä-
nität der blutrünstigen Jakobiner ab. Dank der akribischen Arbeit der
Landeshistoriker zerfiel der gesamtmonarchische Gesellschaftsvertrag
in die Einzelverträge der Länder: Durch sie hatte die Bevölkerung
des jeweiligen Landes einst die Stände mit der Wahrung ihrer Rechte
betraut, welche späterhin die Regierungsgewalt dem Fürsten übertra-
gen hatten – einem Monarchen also, der durch seinen Krönungseid
zur Einhaltung der Landesverfassung verpflichtet war. Indem sie den
Gesellschaftsvertrag in der Geschichte der Länder verankerten, ge-
lang es den patriotischen Gelehrten, eine Alternative zu Zentralismus
und Volkssouveränität, zur josephinischen Reform von oben und zur
Französischen Revolution von außen, zu formulieren: Die altständi-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513