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516 Was war Aufklärung?
Bindeglied zwischen Reformation und Revolution ebenso fest wie ihre
Merkmale, der Konflikt kreiste nun also um diametrale Wertungen
eines strukturell analog erfassten Sachverhaltes.
Mein Buch hat diesen Prozess aufgezeigt und hinterfragt, indem es
die langfristige Wirkmacht der habsburgischen Aufklärung rekons-
truiert hat, die weder in die Revolution mündete noch dem Schema
entsprach, welches das postrevolutionäre Aufklärungsprojekt vorgab.
2. Aufklärung im Plural
Wie nahm sich nun die Vielfalt der Aufklärung aus, die durch ihre
Umprägung zum Projekt verlorenging? Dieses Buch hat die Quel-
len, das innere Gefüge und die Prägekraft der Aufklärung untersucht.
Dabei ist erstens deutlich geworden, dass die Durchsetzungsfähigkeit
der Aufklärung, das heißt sehr häufig: von einer ihrer Ausprägung
auf Kosten einer anderen, von lokalen – also institutionellen, sozialen,
konfessionellen und kulturellen – Vorprägungen und Gemengelagen
abhing. Die lokale Situation diente den Aufklärern als Nährboden und
Kontrastfolie. Örtliche Gegebenheiten bestimmten also ganz erheblich
die spezifische Ausformung und die Erfolgsaussichten der Aufklärung.
Zweitens zeigt sich, dass »Aufklärung« ein Perspektiv- und Pro-
zessbegriff war, der als Nimbusspender fungierte. Seit der maria-the-
resianischen Ära wurde die Aufklärung in akademischen Scharmüt-
zeln und Verteilungskämpfen als prestigesteigernder Trumpf benützt,
der Vorschusslorbeeren und eine Innovationsdividende verhieß.8 Die
Selbstverpflichtung auf die Aufklärung diente bei ihren Vorkämpfern
schon von Beginn an zur diachronen und synchronen Abgrenzung:
Von voraufgeklärten, banausischen und barbarischen Finsterlingen,
neben denen wiederum ein catalogus testium veritatis von Antizipa-
8 Michel Foucault, Il faut défendre la société. Cours au College de France
[1976], Paris 1997, 159: »[L]a généalogie des savoirs a d’abord à déjouer […]
la problématique des Lumières. Elle a à déjouer ce qui à l’époque (et d’ailleurs
au XIXe et au XXe siècle encore) a été décrit comme le progrès des Lumières
[…], de la raison contre les chimères, de l’expérience contre les préjugés […]
c’est dont il faut, je crois, se débarrasser: [il faut, en revanche,] percevoir au
cours du XVIIIe siècle, au lieu de ce rapport entre jour et nuit, entre connais-
sance et ignorance, quelque chose de très different: un immense et multiple
combat, non pas donc entre connaissance et ignorance, mais un immense et
multiple combat des savoirs les uns contre les autres – des savoirs s’opposant
entre eux par leur morphologie propre, par leurs détenteurs ennemis les uns
des autres, et par leurs effets de pouvoir intrinsèques.«
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513