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523Was
war Aufklärung?
strument der Monarchen und ihrer Beamten war, um die Regierbarkeit
der Untertanen zu optimieren. Dieser Gegensatz zwischen der Auf-
klärung als Idee und der Aufklärung als Instrument lässt sich bequem
im Raum abbilden: Die Radikalaufklärer wirken im weltbewegenden
Westeuropa, während die gemäßigten Aufklärer in Zentral- und Ost-
europa beheimatet waren. Diese Hierarchiebildung folgt dem Schema
einer Geo-Identitätspolitik, in der das fortschrittliche Westeuropa und
das rückständige Osteuropa weiterhin die Rollen spielen, die ihnen
durch die Demarkationslogik des Kalten Kriegs zugewiesen wurden.20
Dass man Zentral- bzw. Osteuropa aber nicht als defizitären und bloß
rezeptiven Raum begreifen darf, als Spätzünder, der sich nachträglich
die Geistesfrüchte aus Westeuropa aneignete, und dass die Aufklärung
nicht einfach in der Revolution aufging, hat mein Buch gezeigt.
Den Erfindungsreichtum der »gemäßigten« Aufklärer und ihre
Gestaltungsmacht, die sie gerade im Gestus der Traditionspflege und
Staatstreue in der Habsburgermonarchie entfalteten, haben die Ka-
pitel meiner Arbeit im Detail dargestellt. Dieser Befund entkräftet
den Scheingegensatz zwischen den radikalen, angeblich kraft ihrer
Radikalität geschichtsmächtigen Aufklärungsideen aus Westeuropa
und der gemäßigten und deshalb scheinbar ergebnislosen Aufklärung
Zentraleuropas, die lediglich ein Werkzeug der Fürsten war. Daraus
folgt schließlich auch, dass man Innovation nicht mit politischer Radi-
kalität verwechseln darf.21 Mein Buch zeigt, dass kritisch-innovatives
Denken nicht des politischen Radikalismus bedurfte – häufig gedieh
es unter den Vorzeichen der Apologetik und Loyalität gegenüber dem
Monarchen, wie ich etwa anhand der Historisierung der Natur sowie
der Heiligen Schrift und der Privatisierung der adeligen Souveränitäts-
teilhabe dargelegt habe.
Die Aufklärung war also immer auch ein Instrument, das konkrete
Funktionen erfüllte. Die vorliegende Studie hat versucht, die Präge-
kraft eines solchen Prozesses der Strukturgenese aufzuzeigen. Anders
als es der Fokus der Forschung auf die Wurzeln der Moderne in der
20 Vgl. die kritische Bemerkung Franco Venturis: »Even in those regions, such
as Poland or Russia, where the Enlightenment might, mistakenly, seem only
a fashion, an ornament, or mere propaganda, it soon reveals itself as firmly
rooted […] If one attempts to avoid this truth, the whole picture is distorted.«
Franco Venturi, Utopia and Reform in the Enlightenment, Cambridge 1971,
134.
21 Vgl. Dmitri Levitin, From Sacred History to the History of Religion. Paga-
nism, Judaism, and Christianity in European Historiography from Reforma-
tion to »Enlightenment«, in: HJou 55 (2012), 1117-1160.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513