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106 Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen
erwähnt werden. War es nur das Bedürfnis, einen klassischen Topos einbauen zu
müssen, oder erschienen die Berge um den Pass tatsächlich höher als die anderen ?
Auch hier spielte die subjektive Wahrnehmung eine Rolle, denn die Berge der
Karawanken und Julischen Alpen sind tatsächlich steiler als beispielsweise das viel
höhere Gebirge entlang des Pustertales oder am Reschen. Da in der Antike und
im Mittelalter die absolute Höhe vom Meeresspiegel aus nicht gemessen wer-
den konnte, war für die Wahrnehmung des „höchsten“ Berges immer der relative
Standort des Betrachters ausschlaggebend. Dies machte in der Antike aus dem
Mont Viso den höchsten und auch bekanntesten Berg, obwohl die Wände des
Mont Blanc durch die Fernverkehrsrouten über den Großen und Kleinen St. Bern-
hard durchaus bekannt waren.247
Die Heiligenviten entfernten sich von den antiken Topoi, das Heldenhafte
verschwand ganz. Entsprechend dem Zweck dieser Literaturform steht nun das
göttliche Wirken im Vordergrund. Die hilflosen Wanderer können nur durch Got-
tes Beistand den Widrigkeiten des Gebirges trotzen. So kommt Gott Martin von
Tours zu Hilfe, als er in den Alpen von Räubern bedroht wird : Der Heilige kann
sie bekehren.248 In der Vita des heiligen Severin wird die, natürlich im Winter statt-
findende, beschwerliche Alpenquerung über die höchsten Alpengipfel – ad summa
Alpium cacumina – dank der Führung eines von Gott geleiteten Bären möglich.
Normalerweise sei der Weg in dieser Gegend ohnehin wegen des Eises nicht pas-
sierbar.249 Der bei Severin so hilfreiche Bär wird auch bei Corbinian als Hilfsmittel
zur Alpenquerung eingesetzt.250
In anderen Viten, deren Schauplatz die Alpen sind, werden diese Allgemein-
plätze nicht bemüht, obwohl sie sich anbieten würden. Schon in der Legende der
Thebäischen Legion, aufgeschrieben Anfang des 5. Jh., wird der Schauplatz des
Gebirges kaum erwähnt. Die Vita erzählt die Abschlachtung einer ganzen Legion
christlicher Soldaten im Wallis. Die damit assoziierten Passionen des heiligen Felix
und der Regula aus dem 8. oder 9. Jh. erwähnen eine „öde und einsame“ Gegend
des Glarus, knüpfen daran aber weder Wunder noch die Erfahrung besonderer
göttlicher Gnade. Trotz der Einsamkeit hatten die Heiligen ganz offensichtlich
keine Probleme sich zu versorgen, obwohl die von ihnen gewählte Route mehrere
247 Plinius d. Ä. Nat. Hist. III 117 : „Padus, e gremio Vesuli montis celsissimum in cacumen Alpium elati
finibus Ligurum Bagiennorum visendo“. Siehe dazu auch Kapitel „Die Alpen als Grenze“ auf S. 62
u. 65 zur Erklärung des Topos der Alpen als Mauern Italiens.
248 Sulpicius Serverus, Vita sancti Martini 5.
249 Eugipius, Vita s. Severini c. 29 : „qua regionis illius itinera gelu torpente clauduntur“.
250 Arbeo von Freising, Vita Corbiniani c. 10, ed. Glaser/Brunhölzl 111.
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Subtitle
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Author
- Katharina Winckler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 426
- Keywords
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Categories
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Table of contents
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361