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198 Menschen in den Alpen
Einige alpine Beispiele von Siedlungsentwicklungen sollen nun vorgestellt
werden. Die antike Stadt Octodurum/Martigny liegt an der Straße zum Großen
St. Bernhard und war eine typisch römische Plansiedlung aus der Mitte des 1. Jh.,
die in den darauffolgenden Jahrhunderten immer wieder erweitert und umgebaut
wurde, jedoch nie eine Mauer erhalten hatte. Ab der Mitte des 6. Jh. befand sich
ein Bischofssitz in der Stadt. Spätestens Ende des 6. Jh. verlegte der Bischof sei-
nen Sitz nach Sedunum/Sion auf eine das Wallis überblickende felsige Anhöhe.149
Die profanen Gebäude von Octodurum verfielen nun zunehmend und es wurden
weit über 100 Tote in den Ruinen bestattet. Drei dieser Gräber konnten datiert
werden, sie weisen Grabbeigaben aus dem 7. Jh. auf. Spuren von Holzbauten zei-
gen das weitere Bestehen einer Siedlung, die aber nur wenig später ganz verlassen
wurde. Nur die ehemalige Bischofskirche wurde weiter gepflegt und um 800 auch
noch baulich verändert. Im hohen Mittelalter stand die Kirche dann fast alleine
auf weiter Flur, wie ihr Name Notre-Dame-des-Champs – Unsere Herrin der Felder
– verrät.150
Die antike Stadt Aguntum hatte sich wie Octodurum aus einer römischen Plan-
siedlung entwickelt. Anfang des 5. Jh. wurde dieses im Tal liegende, antike Agun-
tum durch einen Brand weitgehend zerstört.151 Parallel dazu entstand schon im
3. Jh. eine Siedlung auf dem nahe gelegenen Lavanter Kirchbichl, der durch die
Topografie besonders geschützt war. Spätestens Mitte des 6. Jh. lag auch der Bi-
schofssitz auf dem Hügel.152 Mit dem Einfall der Awaren und Slawen verschwand
dieser Bischofssitz, doch die Kirchen auf der Anhöhe dürften weiterhin benutzt
worden sein. Der Ort selbst verlagerte sich zum Fuß des Hügels. Das spätantike
Zentrum wurde bis auf die Kirchen aufgegeben, die antike Stadt hingegen ganz
vergessen.153
Eine ähnliche Dynamik der Hauptorte innerhalb einer Siedlungskammer lässt
sich auch im Raum Teurnia und Virunum beobachten. In beiden Regionen ging
der römische Zentralort mitsamt dem Bischofssitz ganz unter und es konnte sich
hier nicht einmal eine Kapelle am Platz der ehemaligen Kathedralen halten. Die
Attraktivität dieser Siedlungskammern blieb aber auch nach dem Verschwinden
der antiken Städte weiter bestehen. Denn nach der völlig quellenfreien Zeit des
7. Jh. tauchen gerade diese beiden Räume im 9. Jh. als erstes wieder in den Quellen
149 Siehe auch S. 189 f.
150 Faccani, Martigny 169 ff.
151 Karwiese, Ager Aguntinus 25 f.
152 Venantius Fortunatus Vita S. Martini Lib. IV, MGH Auct. Ant 4.1, S. 368.
153 Mehr über die Siedlungstopografie von Aguntum und dem Umland findet sich im Kapitel „Evolution
der städtischen Zentren“ ab S. 244.
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Subtitle
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Author
- Katharina Winckler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 426
- Keywords
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Categories
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Table of contents
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361