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Bevölkerung 291
lichem Alpenrand vom römischen Heer aufgegeben wurden, zog sicherlich auch ein
Teil der Zivilbevölkerung ab, die tatsächliche Größe dieser Gruppe ist jedoch nicht
klar. Die Vita des Severin erzählt von der Abwanderung der gesamten Bevölkerung,
aber dies diente vor allem einer hagiografischen Absicht, dieses Ereignis mit dem
biblischen Auszug aus Ägypten gleichzusetzen.696 In der Realität verließ vermutlich
nur ein kleiner Teil der Bewohner Ufernoricums den Raum. Diese Flüchtlinge lie-
ßen sich laut Vita in Süditalien nieder, einige von ihnen zogen aber vielleicht nur in
die gebirgigen Regionen Ufernoricums oder nach Binnennoricum.697 In Churrätien
wird angenommen, das aufgrund von Siedlern aus dem nördlichen Voralpenraum
eine richtiggehend spätrömische Binnenkolonisation entstand. Diese brachte es mit
sich, dass z. B. die Region jenseits des Flimser Bergsturzes, also das Vorderrheintal/
Surselva, um das 6. Jh. erschlossen und besiedelt wurde.698
Der Begriff „Landnahme“ wurde und wird sehr gerne verwendet, um die Sied-
lungsprozesse des frühen Mittelalters zu beschreiben. Die schwierigen und kom-
plizierten Prozesse der ethnischen und herrschaftlichen Überschichtungen, das
mitunter jahrhundertelange Nebeneinander und Überschneiden verschiedener
Kul turräume und Sprachen werden so mit einem einzigen Wort verkürzt. Dieses
Wort lässt noch dazu den ursprünglichen Einwohnern und Einwohnerinnen
eines Raumes nicht viel Platz : Sie werden mit der „Landnahme“ unsichtbar. Die
Schwammigkeit des Begriffes lässt an alle Möglichkeiten denken, wie denn genau
das Land „genommen“ wurde – Bilder von blutiger Eroberung, Masseneinwande-
rungen oder Kolonialisierung in ihrem schlimmsten Sinn drängen sich auf.699
Die obigen Ausführungen sollten deshalb zeigen, dass es in den West- und vor
allem Zentralalpen im frühen Mittelalter keinerlei „Landnahmen“ gegeben hat, au-
ßer in einem rein politischen Sinn : Die Fürsten und Könige des Raumes nördlich
der Alpen integrierten das Gebirge im Laufe des 6. und 7. Jh. in ihren Herrschafts-
raum und initiierten so einen Jahrhunderte dauernden Prozess der Verschmelzung
und des Zusammenlebens von Menschen. Im 8. Jh. dürfte ein Großteil der Be-
völkerung der West- und Zentralalpen noch ganz in einer spätantik-römischen
Kultur verwurzelt gewesen sein, die Bevölkerung nahm hier nur nach und nach
Kultur und Sprache der von Norden kommenden Herrschaft an. Anders der Ost-
696 Eugippius, Vita s. Severini c. 44.
697 Zur Flucht von romanischen Bevölkerungsteilen in gebirgige Gegenden am Balkan und in den
Alpen : Waldmüller, Die ersten Begegnungen der Slawen 168, 230 f., 382. Siehe dazu auch die The-
orie, wonach zwei Kirchen am Hemmaberg von Flüchtlingen aus Lauriacum errichtet worden sein
könnten. Siehe S. 202 f.
698 Bundi, Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens 24 f.
699 Dazu RGA „Landnahme“ (R. Corradini).
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Die Alpen im Frühmittelalter
Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die Alpen im Frühmittelalter
- Subtitle
- Die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800
- Author
- Katharina Winckler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78769-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 426
- Keywords
- Alps, Transformation of the Roman World, Early middle Ages, Culture, Economy, Power Structures
- Categories
- Geographie, Land und Leute Bergbücher
Table of contents
- 1: Einleitung 9
- 2 : Naturraum Alpen 22
- Begriffsdefinitionen 22
- Geologie 25
- Böden 27
- Wasser 28
- Naturkatastrophen 30
- Vegetationszonen 32
- Fauna 35
- Einstige Fauna und Flora der Alpen 36
- Das Klima in den Alpen : Gegenwart und Vergangenheit 38
- Das Gebirgsklima 39
- Lokale Faktoren 40
- Trockenes Klima der inneralpinen Täler 44
- Feuchtes Klima der Gebirgsrandlagen 46
- Zusatz : Klimatabelle ausgewählter Orte 48
- Das Klima des Frühmittelalters 49
- Globale Klimarekonstruktion 50
- Das frühmittelalterliche Klima in den Alpen 52
- Auswirkungen auf den Menschen 55
- Zusammenfassung 60
- 3 : Der Zugriff auf die Alpen und Blick von außen 62
- Die Alpen als Grenze 62
- Die Alpen als Mauern Italiens : Literarisches Bild und Realität 62
- Gotenkriege und Franken in den Alpen 72
- Karolinger und Ausblick 81
- Grenzen in den Alpen 83
- Konzept 83
- Grenzorganisation in den Alpen 87
- Bergwächter und militante Einheimische 87
- Befestigungen 90
- Slawisch-Awarische Grenzstrukturen Wahrnehmung der Alpen im Frühmittelalter : Furchtbares Gebirge, von den 95
- Römern bis Heinrich IV 100
- Zusammenfassung 110
- 4 : Über die Alpen : Kommunikation und Verkehrswege 114
- 5 : Menschen in den Alpen 172
- Christentum 172
- Entwicklung des Christentums in den Alpen 173
- Spätantikes und frühmittelalterliches Heidentum 182
- Patrozinien Die alpinen Kirchenprovinzen vom 6. bis zum 8. Jahrhundert : Fluktuation, 184
- Neuorientierung, Untergang 187
- Lokale christliche Topografie im Wandel 193
- Das Christentum in den nördlichen Voralpen –
- Neugründung oder Kontinuität ? 203
- Das Christentum in den Ostalpen – Gekappte Wurzeln ? 207
- Ausblick : Das Christentum im Alpenraum unter den Karolingern 217
- Klöster in den Alpen 219
- Westalpen 223
- Zentralalpen 224
- Alemannisches und bairisches Voralpenland 228
- Ostalpen 230
- Besiedlung 235
- Zentren 236
- „Stadt“ : Konzept und Begriffe 236
- Evolution der Städtischen Zentren im frühen Mittelalter 239
- Höhensiedlungen und Burgen 249
- Ländliche Siedlungen und Gutshöfe 254
- Wohnen im Frühmittelalter 259
- Siedlung : Lage und Versorgung 262
- Besiedlungsdichte 265
- Wirtschaft 268
- Alm- und Viehwirtschaft 271
- Ackerbau 279
- „Einöde“ : Sumpf, Wald, Hochgebirge 282
- Bevölkerung 284
- Migration 285
- Zusammenfassung 294
- 6 : Lokale Macht und Herrschaft in den Alpen 299
- 7 : Resümee 344
- 8 : Abbildungen 353
- 9 : Literaturverzeichnis 361