Page - 99 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Der „Demarche-Rummel“ | 99
er bereits am 30. Juni 1914 dezidiert von der Möglichkeit eines „Weltkrieg[es]“
sprach:
„Man hat zwar noch keinerlei Beweise dafür, daß es sich wirklich um ein Komplott
handle, in das mehr als die Attentäter verwickelt sind, oder daß die Verschwörung bis
nach Serbien reiche oder gar, daß die serbische Regierung von einer solchen fürchterli-
chen Verschwörung auch nur gewußt habe – tut nichts, die frommen Christlichsozialen
wollen einen Krieg, in dem, da sich ja daraus ein Weltkrieg entwickeln könnte, Zehn-
tausende von Österreicher[n] und von Serben und Russen ihr Leben einbüßen würden!
Man begreift ja die tiefe Trauer, in die der Tod des Erzherzoges Franz Ferdinand und
seiner Frau die Christlichsozialen gestürzt hat, aber es ist ein Frevel sondergleichen,
in einem solchen Augenblick an nichts anderes zu denken als an einen blindwütigen
Massenmord!“143
Sätze wie diese wurden von den „minder geübte[n] Patrioten“144 (wie sich der Ar-
beiterwille selbst süffisant beschrieb), mehrmals in den Raum gestellt. Nur wenige
Tage später fragte der Arbeiterwille: „Wollen sie wirklich wegen des Attentats ser-
bischer Bosniaken an Serbien den Krieg erklären, obwohl sie doch wissen, daß ein
Krieg mit Rußland, also einen Weltkrieg, bedeuten würde, der Hundertausenden
Menschen, auch österreichischen Familienvätern, das Leben oder die Gesundheit
kosten, Milliarden an Volksvermögen vergeuden, die ganze Kultur Europas in
Frage stellen würde?“145 Der Begriff „Weltkrieg“ meinte zu dieser Zeit einen Krieg,
der auf europäischem Boden stattfinden würde. Über eine Einbeziehung außereu-
ropäischer Gebiete in etwaige Kampfhandlungen spekulierte die Presse noch nicht.
Genauso wenig verstand sie in diesen Tagen unter dem Begriff „Weltkrieg“ einen
Krieg, in dem es um alles gehen werde.
Der „Demarche-Rummel“
Der Zustand der Ungewissheit führte bei allen Grazer Zeitungen zu einer Unzu-
friedenheit mit der eigenen Regierung und deren Informationspolitik. Deren von
sich aus ans Tageslicht gebrachten Aktionen stufte die Presse als zu passiv ein.
Auch die wenigen öffentlichen Stellungnahmen, wie zum Beispiel die Aussendung
143 Ausnützung des Attentats, in: Arbeiterwille, 30.6.1914, 1.
144 Ebd.
145 Verbrechen gegen Verbrechen?, in: Arbeiterwille, 5.7.1914, 2.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453