Page - 303 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Kirchen und Friedhöfe | 303
Kirchen und Friedhöfe
In den Grazer Kirchen war das Risiko, Opfer von physischer Gewalt zu werden,
sehr gering. Zumindest für die Kirchgänger und Kirchgängerinnen. Streitereien,
Schlägereien, Überfälle, Diebstähle, Ruhestörungen sowie Stichwaffenattacken
prägten zwar den Grazer Kriegsalltag295, aber diese Gewaltsituationen trugen sich
nicht in den Kirchen zu. Kirchen erachtete man als einen sicheren Ort der Ruhe,
des Trosts, der Hoffnung und der Orientierung. Und dieses funktionale Moment
der Kirchen wurde in den ersten Kriegswochen von den Grazerinnen und Gra-
zern massiv in Anspruch genommen. Der erste von mir in den Zeitungen und
Zeitschriften gefundene handgreifliche Streit in einer Kirche (außerhalb von Graz)
ereignete sich am 25. Dezember, dem Christtag.296 Zwei Frauen gerieten während
der Messe in eine tätliche Auseinandersetzung, in dessen Verlauf eine der Kontra-
hentinnen das Gebetsbuch als Schlagbehelf heranzog. Der Vorfall endete letztend-
lich vor dem Landesgericht in Graz, wo die beiden Frauen wegen der Beleidigung
einer gesetzlich anerkannten Kirche (§ 303 des zivilen Strafgesetzes) angeklagt
wurden. Das Urteil lautete für beide „[r]aufende[n] Weiber“297 eine Woche schwe-
ren Arrestes inklusive eines Fasttages. Für Graz liegen derartige Zeitungsberichte
nicht vor. Sieht man von den nächtlichen Bajonett- und Messerattacken in unmit-
telbarer Nähe von Kirchen ab298, waren die Sakralbauten durchaus zentrale Schutz-
orte. Dieses Moment gilt es zu betonen, wenn man sich die „Hast“ und „Hektik“
der ersten Mobilisierungstage in Erinnerung ruft. Diese „Mobilisierungshektik“
belastete Männer wie Frauen enorm. Überall in Graz brachen Menschen körper-
lich zusammen: auf der Straße, am Bahnhof, in den Kinos, in den Kasernen, in den
Geschäften und letztendlich auch in den Kirchen. Im November 1914 brach zum
Beispiel ein älterer Zivilist, „der plötzlich von Unwohlsein befallen wurde“, in der
(1908 eingeweihten) Josefskirche zusammen und starb daraufhin.299 Vorfälle wie
diese konnten regelmäßig auf den hinteren Seiten der Zeitungen gefunden wer-
den.300 Das Zusammenbrechen auf offener Straße war in einer „nervenbezogenen“
295 Siehe das Kapitel: Soldaten abseits der Truppe.
296 Raufende Weiber in der Kirche, in: Arbeiterwille, 12.5.1915, 7.
297 Ebd.
298 Derartige Vorfälle finden sich oft. In einer Oktobernacht stach z. B. hinter der Grazer Welschen
Kirche ein Soldat einen Hilfsarbeiter nieder, der später im Krankenhaus an seinen Verletzungen
starb, vgl. Mit dem Bajonett erstochen, in: Arbeiterwille, 5.10.1914 (Abendausgabe), 3; Ein tödli-
cher Bajonettstich, in: Grazer Tagblatt, 5.10.1914 (Abendausgabe), 4.
299 Plötzlicher Tod in der Kirche, in: Arbeiterwille, 10.11.1914 (Abendausgabe), 2.
300 Siehe das Kapitel: Soldaten abseits der Truppe.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453