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Offengelegte Zeitungspolitik | 151
von „Hunderten“.72 Beispielsweise schätzte er den (ersten) „patriotischen“ Straßen-
umzug vom 25. Juli auf „etwa fünfhundert Personen, meist Neugierige[r]“.73 Die
Redaktion unterstellte aus meiner Sicht bewusst, dass die Mehrheit derjenigen, die
zum Korpskommando zogen, primär neugierig gewesen sei. Sie, die sich vehement
gegen einen „Serbienkrieg“ stemmte, versuchte aus meiner Sicht diese Menschen-
menge sowohl was ihre Größe als auch ihre Intention betraf kleinzureden. Die bür-
gerlichen Zeitungsredaktionen hingegen bauschten die „Straßenumzüge“ sichtlich
auf. Diese spezielle Form der Berichterstattung veränderte sich mit Voranschrei-
ten der Tage kaum. Es blieb aus meiner Sicht bei der bürgerlichen Übertreibung
und der sozialdemokratischen Untertreibung. Welcher Zweckbehauptung man
hier nun trauen kann, bleibt ungewiss. Beide Unterstellungen vermitteln aber sehr
deutlich die politische Stoßrichtung der jeweiligen Redaktionen.
Offengelegte Zeitungspolitik
Einer der Gründe, warum die Zeitungen verzerrende bzw. politisch motivierte
Übertreibungen und Untertreibungen in Umlauf brachten, lag darin, dass die Re-
daktionen – wie sie selbst zugaben – mit ihren Artikeln auf die eine oder andere
Weise Politik/Stimmungsmache betrieben. Sie waren schlichtweg Parteizeitungen.
Dass man im Krieg seine jeweiligen politischen Ansichten beibehalten werde, be-
tonte nicht nur jede Redaktion mehrmals, sondern sie baute derartige Absichts-
erklärungen auch überall dort ein, wo es ihr passend schien. Im Endeffekt finden
sich diese Willensäußerungen in den Leitartikeln, in den Lokalnachrichten, aber
auch in den Rezensionen sowie in anderen Berichtssparten. So gab das klerikal-
konservative Volksblatt mehrmals offen zu, dass es seine Berichte gemäß katholi-
schen Vorstellungen abwickelte. Konkret bedeutete dies, dass das Volksblatt in der
Bevölkerung „recht viel Freunde für unser Vaterland zu gewinnen“74 versuchte. Ein
anderes Mal schrieb das Volksblatt: „Begeistert für die Ehre und Größe unseres Va-
terlandes, hat [... Eugen Kraft, ein Mitarbeiter des Volksblatts,] in glühenden Leit-
artikeln Sühne gefordert für das furchtbare Verbrechen in Sarajevo.“75 Diese von
72 Die Größe jener Menschenmenge, die Anfang Juli zum Grazer Hauptbahnhof zog, um dort den
Hoftrauerzug zu sehen, schätzte der Arbeiterwille hingegen auf Tausend, siehe das Kapitel: Zur
Trauerstimmung.
73 In Erwartung der Entscheidung, in: Arbeiterwille, 26.7.1914, 5.
74 Dem „Grazer Tagblatt“, in: Grazer Volksblatt, 8.8.1914 (12-Uhr-Ausgabe), 3.
75 In die Front!, in: Grazer Volksblatt, 1.8.1914, 5. Mit diesem Glückwunschartikel verabschiedete
sich das Volksblatt von Eugen Kraft. Er ging an die Front.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453