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Schlussbetrachtung436
wohl).47 Man kann zwar aus der Rückschau zahllose Burgfriedensbrüche und an-
dere negative Alltagserscheinungen zusammentragen und analysieren, aber man
kann nicht die Tatsache ignorieren, dass mehr oder minder alle Grazerinnen und
Grazer in den Krieg zogen (= Ausdruck von „Pflichterfüllung“, Kriegsbereitschaft
oder zumindest Kriegsergebenheit).
Einheitsbrüche
Der Einheitsprozess stand unter Dauerbelastung. Brüche in der „Einheit“ zeigten
sich unverkennbar durch das tägliche stigmatisierende, kriminalisierende sowie
auf der Straße oft gewaltsame Aufzeigen selbstdefinierter Grenzen dieser Einheit.
Dabei konnte der „Feind“ aus den gegnerischen Reihen stammen oder in den eige-
nen Reihen identifiziert werden.48 In die erste Sparte fielen „Spione“, „Saboteure“,
„Zigeunerbanden“, Zivilinternierte und teilweise auch die Flüchtlinge. Zu den
Feinden aus den eigenen Reihen zählten die „Lebensmittelwucherer“, „Profitpa-
trioten“, „Zinsgeier“, „Hausherrenhyänen“, „Zivilstrategen“, „Wirtshauspatrioten“,
„Bauernfänger“, „Milchpantscher“, „Serbenfreunde“, „Landstreicher“ sowie Diebe
und andere Betrüger („Schwindler“). Von den „Deserteuren“ und „Drückeber-
gern“ ganz zu schweigen. Einige Male nahm man auch Arbeitslose als „Unsicher-
heitsfaktor“ wahr – ein Thema, das die Verflechtung der Stadt mit seinem Umfeld
im Kronland sichtbar machte und an dem sich das im Krieg verschlechternde Ver-
hältnis zwischen der Stadt und dem Land ablesen lässt.49
Die überwiegende Mehrheit dieser Feinde lebte in Graz oder ihren „Vororten“. Ih-
nen versuchte man (wie den „Helden“ an der Front), einen Namen und ein Gesicht
zu geben, was sich bereits daran zeigt, dass die Presse jedwedes als negativ oder
positiv konnotiertes Alltagshandeln eines Menschen durch eine Konformitätsdruck
erzeugende Anführung seiner persönlichen Angaben präzisierte. Hier sei hinzuge-
47 Gegen den „Serbienkrieg“ schrieb der Arbeiterwille an. Auf der Straße kam es lediglich zu unor-
ganisierten bzw. individuellen Protestaktionen (Herunterreißen von Plakaten, Verbaldelikte und
so weiter).
48 Drei Artikel hierzu: Gegen die Zigeunerplage, in: Grazer Tagblatt, 12.9.1914, 3; Unsere Zivilstra-
tegen, in: Grazer Mittags-Zeitung, 29.10.1914, 3; Profitpatrioten, in: Arbeiterwille, 27.1.1915, 3.
49 Ebenso erwähnenswert sind hier die Konflikte zwischen der Stadt Graz und ihren „Vororten“,
der Konflikt zwischen den beiden steirischen Diözesen oder die Auseinandersetzungen zwischen
den beiden Reichshälften. Außerdem kam es zu Unstimmigkeiten zwischen jenen Regionen, die
Kriegsgefangene und Flüchtlinge aufnahmen (aufnehmen mussten), und jenen, die dies nicht
taten.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453