Page - 185 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Verspätete Zeitungen in der Provinz | 185
der Arbeiterwille Artikel, die nicht mehr zwischen „Herrschern“ und „Sozialis-
ten“ unterschieden, sondern die beispielsweise nur mehr vom „Russen“ sprachen,
den es „aufzuhalten“ galt. So kriminalisierte der Arbeiterwille Russland in einigen
Artikeln universell und absolut mittels traditioneller Parolen. Stellenweise diente
ihm sein Diffamieren auch zur Forcierung seiner eigenen (sozialdemokratischen)
Abstinenzbewegung. Dementsprechend sei dem Arbeiterwillen zufolge der Alko-
hol „ein Zeitvertreib für Slaven“ und „Slaven können keine Welt gewinnen.“263 Im
Endeffekt wählte daher der Arbeiterwille zwei Diffamierungsschienen. Die erste
Methode skandalisierte die Feindstaaten zur Gänze. Die zweite Methode trennte
rigoros zwischen den „bösen“ und „guten“ Kräften innerhalb eines Staats. Zu den
„bösen“ Kräften zählten hauptsächlich die antisozialistischen, kapitalistischen und
im „Warmen/Trockenen“ sitzenden Polit- und Journalistenkreise. Zu den „guten“
Kräften zählten vorwiegend die „armen“ Menschen, denen man von „oben“ einen
Krieg auferlegte.
Verspätete Zeitungen in der Provinz
Die drei Grazer Bahnhöfe nahmen während der vierjährigen Mobilisierung eine
zentrale Rolle ein.264 Bereits die ersten Mobilisierungstage zeigten, dass die (erste)
neue Kriegsfahrordnung weitreichende Folgen für die Leistungskraft der Mon-
archie mit sich brachte.265 Sie bedeutete eine enorme Einschränkung des zivilen
Reise- und Güterverkehrs zugunsten militärischer Belange.266 Diese Schieflage war
offenkundig und über sie wurde in den Zeitungen offen geredet. An der Kriegs-
fahrordnung beanstandeten vorsichtig die Grazer Presseorgane die ständigen
Fahrplanänderungen. Viele Züge fielen aus. Andere wurden zur Gänze eingestellt.
Davon betroffen waren einerseits diejenigen, die den Zug zum Bestreiten ihres
Arbeitswegs oder Behördengangs benötigten, andererseits diejenigen, die klein-
oder großgewerblich auf den Güterverkehr angewiesen waren. Zudem wurden
die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen wieder ins Leben zu rufen.“ [12.
Oktober = juliani-
scher Kalender, 25. Oktober = gregorianischer Kalender].
263 Teufel Alkohol, in: Arbeiterwille, 18.8.1914, 4.
264 Zur Geschichte der drei Grazer Bahnhöfe (Hauptbahnhof, Staatsbahnhof, Köflacher-Bahnhof):
Leitner (2007); Lackner (1982). Allgemeines zu den Bahnhöfen im Ersten Weltkrieg in: Gregory
(2007).
265 Die Kriegsfahrordnung auf der Südbahn, in: Tagespost, 5.8.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 1.
266 Die (erste) Kriegsfahrordnung wurde im Oktober 1914 gelockert. Ab 1915 herrschte wieder die
Friedensfahrordnung, vgl. Schmied-Kowarzik (2016), 523.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453