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Schlussbetrachtung428
schaft eine diffuse Richtung“22, weshalb sie die Charakteristika einer Lewin’schen
Gefechtszone führt – wenngleich mit anderen Mitteln. Hüppauf führt hier unter
anderem als Beispiel Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Roman „Berlin Alexand-
erplatz“ (1929) an, der die Raumaufteilung in Freund und Feind nicht durchblickt,
sich deswegen „über die Lage der Front täuscht“ und so in Lebensgefahr gerät.23
Bernd Hüppauf führt diesen Umstand folgendermaßen aus:
„Eines der Probleme der Stadtbewohner ist es, sich in dem verwirrenden Liniengewirr
der Stadt zurechtzufinden und die Front zu lokalisieren. Nur soweit sie sich in dem ver-
wirrenden Durcheinander zurechtfinden, können sie sich selbst einordnen und wissen,
wo der Gegner steht.“24
Dementsprechend kann angenommen werden, dass das Fragen und Abschätzen,
wer ein Feind ist und wer nicht, wo die Front verläuft und wo nicht, ein integraler
Bestandteil und ein maßgebliches Erschwernis der damaligen Alltagsbewältigung
waren. Am Ende gelang das Sichtbarmachen, das Aufflechten sowie die Regulie-
rung jener Stadtlandschaft im „Volkskrieg“, die kein klares „Vorne“ und „Hinten“
kannte, unterschiedlich „gut“ – was nichts anderes bedeutet, als dass es manchen
„schlecht“ gelang. Diese Perspektive kann auch für die Analyse der Grazer Ein-
heitsbildung eingenommen werden.
Grazer Einheitsbildung
Die Einheitsbildung erfolgte vielschichtig und sie war von Anfang an brüchig und
mit Widersprüchen behaftet. Im Wesentlichen drehte sich der ambivalente Prozess
der Einheitsbildung um das Gefühl, dass man ein (vermeintlich) gemeinsames
Schicksal zu ertragen habe und dieses Schicksal hieß Krieg. Sieht man von den Pres-
sesätzen, die dieses Gefühl einfach konstatierten, ab, nährten die Zeitungen dieses
Gefühl auch dadurch, dass sie permanent über das Leben in anderen Städten bzw.
Regionen Österreich-Ungarns berichteten. Dieser Vergleich ließ aus meiner Sicht
für die Grazer Bevölkerung nur einen Schluss zu: Der Grazer Kriegsalltag hebt sich
in vielerlei Hinsicht von den Vorgängen im restlichen Österreich-Ungarn nicht ab.
Das galt sowohl für die als positiv als auch für die als negativ aufgefassten Alltags-
momente (Gelegenheitsstrukturen). In Graz gab es „patriotische“ Straßenumzüge
22 Hüppauf (1995), 325.
23 Ebd.
24 Ebd.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453