Page - 138 - in Jemen - Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
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REISEBERICHT
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im Norden die zum Teil schwer zugänglichen Täler
des Kaukasus und wohl auch das armenisch-kurdi-
sche Bergland im Nordosten der heutigen Türkei. Im
Süden waren es vor allem abgeschiedene Seitentäler
des über Jahrhunderte stark isolierten Wadi Hadra-
maut. Nur in diesen entlegenen Gebieten hat sich
diese Konstruktionsweise bis heute erhalten. Und die
Verbreitung ist rückläufig, wie der Vergleich mit dem
Fotomaterial von Hans Helfritz belegt.
Was ist nun an diesen Auskragungen so interessant?
Wenn man einen sehr breiten Raum mit einer Balken-
decke überspannen will, so hat man mit dem Phäno-
men der Durchbiegung der Deckenbalken zu kämp-
fen. Die Balken hängen zur Raummitte auf Grund ihres
eigenen Gewichtes, der auflastenden Decke und der
Nutzlasten oberhalb zur Raummitte hin durch. Das
Problem lässt sich natürlich leicht durch Einbringung
von Stützen lösen. Will man aber einen stützenfreien
Raum mit größerer Spannweite erhalten, so müssen
andere konstruktive Mittel eingesetzt werden.
Lässt man beispielsweise die Deckenbalken auf bei-
den Seiten des Raumes etwas über die zwei Außen-
wände, auf denen die Balken aufliegen, überstehen
und belastet diese überstehenden Enden, so werden
die Deckenbalken in der Mitte etwas angehoben
und aufgewölbt. Man nennt dieses Phänomen einen
Vorspanneffekt der heute auch bei modernen Brü-
cken immer wieder zum Einsatz kommt. Das Vorspan-
nen der Eiseneinlagen im Betonbrückenbau ist heute
etwas viel Praktiziertes. Man muss schon relativ früh
auf dieses statische Phänomen der sinnvollen Überla-
gerung von zwei Lastfällen gestoßen sein, bei denen
sich die Belastungen und auch die Durchbiegungen
zum Teil gegenseitig aufheben.
Selbst in Europa verwendete man schon in früheren
Jahrhunderten bei vielen Fachwerkbauten vor allem
an den Giebelseiten dieses Auskragen für den Vor-
spanneffekt der Deckenbalken. Bei den urartäischen
Hausdarstellungen in den Bronzereliefs treten prak-
tisch immer die obersten Deckenbalken vor die Fas-
sadenebene und sind auf der Außenkante mit einer
Brüstung für die Dachterrasse belastet. Die dreigescho-
ßigen Wohnbauten aus der Zeit zwischen 900 und
600 v. Chr. sind relativ detailliert dargestellt. Bei den
Urartäern wurden offenbar im obersten Stockwerk
große stützenfreie Räume auf diese Weise möglich
gemacht. Das erinnert auch an die großen stützenfrei-
en Kat-Räume im Jemen, die ebenfalls gewöhnlich in
den obersten Stockwerken liegen und in die man sich
nachmittags zum Kat-Genuss zurückzieht.
Bei den Lehmbauten im Wadi Duan wird das Phä-
nomen sogar an vielen Bauten nicht nur ganz oben,
Etwas sehr Ähnliches kann man von solchen Aus-
kragungen in der Architektur der Urartäer sagen.
Denn ein weiteres Bronzerelief mit einer detailreichen
Darstellung von mindestens zwei mehrgeschoßigen
Wohnbauten aus urartäischer Zeit zeigen ganz ähn-
liche Auskragungen auch bei diesen Bauten (siehe
Abb. 140). Auch hier bestehen die Brüstungen der
Dachterrassen aus Stützgliedern und dazwischen ge-
stellten Ziegelgittermembranen. Der Kaukasus nördlich
des Siedlungsgebietes der Armenier kennt heute noch
Wohntürme mit Auskragungen. In der Region südlich
des Kaukasus bis in die Region um Van in der Ost-
türkei gibt es also eine durch die Bronzereliefs und die
Wohntürme im Kaukasus dokumentierte enorme kultu-
relle und zeitliche Tiefe dieses Konstruktionsprinzips.
Es scheint denkbar, dass die Bauweise früher über
einen sehr großen geografischen Raum, der vielleicht
bis in den Jemen reichte, verbreitet war und sich nur
in den kulturellen “Ökonischen” am Rande dieses
Großraumes erhalten hat, während sie in den Räu-
men dazwischen längst durch andere Konstruktionen
ersetzt worden ist. Die kulturellen Ökonischen waren
Abb. 143
Jemenitin in Hureida, die sich bereitwillig in den
höher gelegenen engen Gassen in Hureida foto-
grafieren ließ.
Jemen
Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
- Title
- Jemen
- Subtitle
- Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
- Author
- Hasso Hohmann
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-670-3
- Size
- 20.0 x 27.0 cm
- Pages
- 308
- Keywords
- Vorderasien, arabische Halbinsel, Sanaa, Aden, Architektur
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorbemerkungen 7
- Einige Tage Ägypten 17
- Reise durch den Jemen 29
- Altstadt von Sanaa 33
- Kleidung von Männern und Frauen 42
- Die leichte Droge Kat 56
- Marib 60
- Die Salayman Ibn Dawud Moschee 73
- Säulen und ihre Kapitelle 74
- Flug ins Wadi Hadramaut 78
- Wasserhäuser 84
- Tarim 86
- Türen und ihre hölzernen Fallenschlösser 93
- Vergleich mit Türschlössern auf Tinos 100
- Mausoleum in Al Ghurfa 107
- Schibam 108
- Seiyun 124
- Auskragungen und Vorspanneffekte 133
- Hureida 139
- Hadjarein 142
- Chrecher 142
- Sif 144
- Bienenhaltung in Amphoren 152
- Al Mukalla 157
- Fahrt nach Aden 165
- Aden 168
- Taiz 175
- Saada 195
- Schahara 202
- Fahrt nach Sanaa 209
- Amran 209
- Thulla 213
- Kaukaban 218
- Kuchlan 224
- Al Qurazihah, ein Kral der Tihama 229
- Hodeida 233
- Zabid 236
- Hadjara 242
- Rauda 249
- Baynun 254
- Zurück entlang des Roten Meeres 268
- Siedlungsformen 273
- Bauformen 277
- Architekturdetails 287
- Apendix