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Die Entwicklung des Kirchenmobiliars |
93Zur
Geschichte der Beichtstühle
Der Einbau von Beichtstühlen wurde für alle Pfarrkirchen vorgeschrieben, dage-
gen konnte in jenen Klosterkirchen, die nicht der Seelsorge dienten, auf die Möbel
verzichtet werden. In Abhängigkeit von der Anzahl der Gemeindemitglieder waren
mindestens zwei Beichtstühle zur Verfügung zu stellen, um eine nach Geschlechtern
getrennte Beichte zu ermöglichen. Freilich zog sich die Umsetzung des Vorhabens in
die Länge. Anfangs waren es in erster Linie Vertreter des Jesuiten- und Kapuziner-
ordens, die sich zur Aufstellung der neuen Möbel in ihren Kirchen entschlossen, um
Borromeos Anweisungen für die Ermöglichung einer würdigen Spendung des Beicht-
sakraments nachzukommen.218
Im niederösterreichischen Prämonstratenserstift Geras hat sich ein Beichtstuhl aus
der Mitte des 17. Jahrhunderts erhalten ; es ist das früheste Exemplar in den hier
untersuchten Regionen (Abb. 120). Das dreiachsige Möbel besitzt ein risalitartig
überhöhtes Mitteljoch, mit Engeln verzierte Säulen tragen ein schweres Gebälk. Die
Eintritte zu den Gehäusen schließen mit Halbbogen, frühbarockes Blattwerk ziert
den Gebälkfries. Beichtende knien hier in einer tiefen Nische und befinden sich so in
einem schützenden Halbdunkel. Was die Kniebänke in den beiden seitlichen Zellen
betrifft, so lässt sich im Vergleich mit der Vorlage Müllers jedoch eine wichtige Mo-
difikation erkennen : Sie sind zur Mitte gedreht, um die Kommunikation zwischen
Beichtvater und Pönitenten zu erleichtern.
Wie im vorhergehenden Kapitel beschrieben, trat um 1700 neben die herkömm-
lichen kastenartigen Beichtstühle eine neue Art von Möbeln, deren Tempiettoform
sich von Drucken Jean Lepautres (1618–1682) aus dem dritten Viertel des 17. Jahr-
hunderts ableitete. In Wien, Dürnstein, St. Pölten und andernorts haben sich für
diese Möbel eine ganze Reihe von Beispielen erhalten (Abb. 18, 67, 117, 238). Das
früheste bislang nachgewiesene ist das Inventarstück der Wiener Josefskirche
(Abb. 60). Es entstand kurz vor 1700 und wird noch von geschnitzten Akanthus-
stauden bekrönt. Wie die Beichtstühle der Jesuitenkirche in Wien (Abb. 31) stattete
man tempiettoförmige Möbel schon bald darauf mit Kuppeln aus. Häufig waren sie
abgeflacht, um Skulpturen mit Darstellungen des Königs David, des hl. Petrus, der
Maria Magdalena oder des »guten« Schächers Dismas eine Standfläche zu bieten.
Auch diese Invention geht auf Lepautre zurück.219 Dagegen tragen die konventio-
nellen kastenförmigen Beichtstühle jetzt oft ornamentale Schnitzaufsätze, selten
mit entsprechenden Gemälden oder Reliefs (Abb. 260, 296, 354, 374). Die Funktion
schichtlichen Formenreichtum aus. Heidelmann/Meissner, Beichtstühle (2001), Abb. S. 8–11, 40–61,
183 ; Meulen, Beichtstuhl (2009), 118–123 ; Fuchs/Thormann, Beichtstuhl (2010).
218 LThK, Bd. 2 (1994), 162.
219 Ornamentstichsammlung MAK, Wien, mit den Stichen KI 1-658-105 oder KI 1-658-107.
Sakralmöbel aus Österreich
Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus, Volume I: Östliche Landsteile
- Title
- Sakralmöbel aus Österreich
- Subtitle
- Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus
- Volume
- I: Östliche Landsteile
- Author
- Michael Bohr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20512-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 730
- Keywords
- Baroque, applied arts, church furnishings, Barock, Kunsthandwerk, Sakralmöbel
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Teil 1 Vorbemerkungen
- Teil 2 Grundlegendes
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Zur Barockisierung von Weltkirchen und Klöstern 31
- Tischlerwerkstätten in Wien 33
- Tischlerwerkstätten auf dem Land 36
- Zur Größe der Werkstätten 40
- Zur Zusammenarbeit von Tischlern mit andern Handwerkern 41
- Zur Beschaffung des benötigten Holzes 43
- Zur Qualität des Holzes und zum System der Vergütung von Tischlern 43
- Nachlassende Qualität der Tischlererzeugnisse im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert 46
- Zu den verwendeten Materialien 48
- Zur Oberflächenveredelung und Restaurierung 51
- Exkurs : Technische Innovationen als Grundlage der Entwicklung neuer Gestaltungsformen 55
- II. Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente 58
- III. Die Entwicklung des Kirchenmobiliars 81
- IV. Sakristeien 101
- Ihre Lage innerhalb des Raumgefüges 101
- Der Klosterplan von St. Gallen und frühe Sakristeimöbel 102
- Zur Funktion von Sakristeien, barocke Sakristeieinrichtungen und die Schriften von Carlo Borromeo und Jacob Müller 104
- Altäre und Scheinaltäre 104
- Lavabos 106
- Sakristeischränke und Ankleidekredenzen 107
- Zur Entwicklungsgeschichte der Sakristeischränke 110
- Ankleidetische und Tischkästen 111
- Truhen und Truhenbänke 113
- Beichtstühle 115
- Betpulte, Kniebänke und Bankpulte 116
- V. Mobiliar in Nebenräumen von Kirchen und Klöstern 118
- VI.Zur Hierarchie von Räumen und Möbeln 127
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Teil 3 Katalog – Beiträge zu den Sakralanlagen – Tafeln
- Hinweise 133
- Hinweise zu Provenienzen, Datierungen und Materialien 133
- Hinweise zu den angegebenen Maßen 133
- Hinweise zu den zitierten Schriftquellen 134
- I. Sakralbauten in Wien 135
- II. Sakralbauten in Niederösterreich 247
- Altenburg, Benediktinerstift 247
- Ardagger, Pfarrkirche hl. Margarete 260
- Dürnstein, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt 264
- Geras, Prämonstratenser-Chorherrenstift 283
- Göttweig, Benediktinerstift 294
- Heiligenkreuz, Zisterzienserstift 315
- Herzogenburg, Augustiner-Chorherrenstift 335
- Horn, Piaristenkirche 347
- Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift 352
- Krems, Piaristenkirche 367
- Krems, Pfarrkirche St. Veit 380
- Lilienfeld, Zisterzienserstift 386
- Melk, Benediktinerstift 408
- St. Marein, Pfarrkirche hl. Maria 434
- St. Pölten, Dom- und Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 436
- Seitenstetten, Benediktinerstift 452
- Wiener Neustadt, Zisterzienserstift Neukloster 466
- Zwettl, Zisterzienserstift 477
- III. Sakralbauten in Oberösterreich 500
- Baumgartenberg, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 500
- Kremsmünster, Benediktinerstift 512
- Lambach, Benediktinerstift 534
- Linz, Jesuitenkirche (Alter Dom) 551
- Linz, Karmelitenkloster 566
- Linz, Seminarkirche Hl. Kreuz 572
- St. Florian, Augustiner-Chorherrenstift 580
- Schlägl, Prämonstratenser-Chorherrenstift 607
- Schlierbach, Zisterzienserstift 621
- Waldhausen, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 631
- Wilhering, Zisterzienserstift 638
- Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick – Glossar – Verzeichnisse –
- Literatur
- Zusammenfassung und Ausblick 659
- Zum Aufbau des Buchs 659
- Historischer Abriss 660
- Entwicklungsgeschichte der Kirchenmöbel 661
- Zur Einrichtung verschiedener Räume in Kirchen und Klöstern 662
- Zur Hierarchie sakraler Einrichtungen 663
- Die Auftraggeber und ihr Einfluss auf die Kunstentwicklung 663
- Zum Verhältnis zwischen Auftraggebern, Architekten und Handwerkern 665
- Zu den Tischlern 665
- Stilistische Entwicklung der Möbel 666
- Regionale Besonderheiten 667
- Fazit und Ausblick 668
- Glossar 670
- Ortsindex 678
- Künstlerverzeichnis 682
- Abkürzungsverzeichnis 688
- Abbildungsnachweis 692
- Literaturverzeichnis 693