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Heiligenkreuz, Zisterzienserstift | 325
aus, dass für den damals erst 14- oder 15-jährigen Donner eine wesentliche Mitarbeit
an den Büsten auszuschließen sei, doch könnte er Ornamente oder die Kapitelle mit
den Engelsköpfchen geschnitzt haben. Ende 1708 und Anfang 1709 stellten Giuliani
und Rueff noch Beichtstühle in Rechnung, die vermutlich in den Seitenschiffen vor
der Gestühlsrückseite platziert wurden.311 Die Möbel sind verloren, aber Beispiele in
den Stiftskirchen zu Lilienfeld und Zwettl lassen erahnen, wie wir uns das Ensemble
vorzustellen haben (Abb. 205, 271).
Unbeantwortet blieb bislang die Frage nach der Tradition, in der die Stallen in Hei-
ligenkreuz stehen. In der Fachliteratur wird bisweilen vermutet, dass süddeutsche und
österreichische Gestühle mit reliefierten oder gemalten Darstellungen in der Nach-
folge des um 1696 entstandenen Gestühls von Waldsassen zu verorten seien.312 Der
Hinweis auf dieses Möbel kommt nicht von ungefähr, ist es doch eines der elabo-
riertesten im süddeutschen Raum und war vermutlich weit über die Landesgrenzen
hinaus bekannt. Andererseits war im frühen 18. Jahrhundert die Idee, Gestühle von
einem Bildschnitzer mit einem Darstellungszyklus und einer geschnitzten Bekrö-
nung ausstatten zu lassen, keineswegs neu. Vielmehr blickt sie auf eine bis ins hohe
Mittelalter reichende Tradition zurück. Hinzuweisen wäre hier im Kontext etwa auf
zwei Beispiele aus dem Wiener Stephansdom : das spätgotische »Alte Gestühl« mit
Darstellungen aus der Passionsgeschichte und das »Neue Gestühl« mit Porträtbüs-
ten (Abb. 73).313 Ferner schmückten szenische Reliefs auch frühere Chorstallen in
Heiligenkreuz selbst ; im Anschluss wird darauf noch einmal einzugehen sein. Dann
befindet sich im ehemaligen, unweit von Brno (Brünn) gelegenen Zisterzienserklos-
ter Velehrad (Welehrad) ein nur kurz vor dem Giuliani-Gestühl entstandenes Möbel,
das vor den Stirnseiten im Westen ebenfalls mit großen Skulpturen versehen ist.314
Schließlich wissen wir von mittelalterlichen Gestühlen, auf deren Gesimsen Reliqui-
are zur Anbetung ausgesetzt waren.315 All das erinnert deutlich an die Charakteristika
des Heiligenkreuzer Inventarstücks. Nicht nur Waldsassen kommt also als Ideenliefe-
rant für das Giuliani-Gestühl infrage.
311 ÖKT, ebd., 77 ; Ronzoni, Giuliani, Bd. 1, 213.
312 Zum Gestühl in Waldsassen vgl. Busch, Chorgestühl (1928), 39–40, Taf. 50 ; Schindler, Chorgestühle
(1983), 61, 68, 71 ; Wartena, Süddeutsche Chorgestühle (2008), 466–478.
313 Vgl. dazu das entsprechende Kapitel im vorliegenden Buch.
314 List, Interieurs (1902), Taf. 96. Weitere Zisterzienserklöster mit entsprechend vervollkommneten Ge-
stühlen sind beispielsweise Heinrichau (Henryków) in Niederschlesien mit einer Ausstattung von 1576
oder St. Urban im Kanton Luzern mit Stallen, die zwischen 1700 und 1706 entstanden. Busch, Chor-
gestühl (1928), 41, Taf. 54 ; Felder, Barockplastik (1988), 28, Abb. 54, 55.
315 Eine Miniatur des Psalters König Heinrichs VI. aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt eines dieser
Möbel. Schwarz, Baukunst (2013), 121, Abb. 46.
Sakralmöbel aus Österreich
Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus, Volume I: Östliche Landsteile
- Title
- Sakralmöbel aus Österreich
- Subtitle
- Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus
- Volume
- I: Östliche Landsteile
- Author
- Michael Bohr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20512-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 730
- Keywords
- Baroque, applied arts, church furnishings, Barock, Kunsthandwerk, Sakralmöbel
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Teil 1 Vorbemerkungen
- Teil 2 Grundlegendes
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Zur Barockisierung von Weltkirchen und Klöstern 31
- Tischlerwerkstätten in Wien 33
- Tischlerwerkstätten auf dem Land 36
- Zur Größe der Werkstätten 40
- Zur Zusammenarbeit von Tischlern mit andern Handwerkern 41
- Zur Beschaffung des benötigten Holzes 43
- Zur Qualität des Holzes und zum System der Vergütung von Tischlern 43
- Nachlassende Qualität der Tischlererzeugnisse im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert 46
- Zu den verwendeten Materialien 48
- Zur Oberflächenveredelung und Restaurierung 51
- Exkurs : Technische Innovationen als Grundlage der Entwicklung neuer Gestaltungsformen 55
- II. Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente 58
- III. Die Entwicklung des Kirchenmobiliars 81
- IV. Sakristeien 101
- Ihre Lage innerhalb des Raumgefüges 101
- Der Klosterplan von St. Gallen und frühe Sakristeimöbel 102
- Zur Funktion von Sakristeien, barocke Sakristeieinrichtungen und die Schriften von Carlo Borromeo und Jacob Müller 104
- Altäre und Scheinaltäre 104
- Lavabos 106
- Sakristeischränke und Ankleidekredenzen 107
- Zur Entwicklungsgeschichte der Sakristeischränke 110
- Ankleidetische und Tischkästen 111
- Truhen und Truhenbänke 113
- Beichtstühle 115
- Betpulte, Kniebänke und Bankpulte 116
- V. Mobiliar in Nebenräumen von Kirchen und Klöstern 118
- VI.Zur Hierarchie von Räumen und Möbeln 127
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Teil 3 Katalog – Beiträge zu den Sakralanlagen – Tafeln
- Hinweise 133
- Hinweise zu Provenienzen, Datierungen und Materialien 133
- Hinweise zu den angegebenen Maßen 133
- Hinweise zu den zitierten Schriftquellen 134
- I. Sakralbauten in Wien 135
- II. Sakralbauten in Niederösterreich 247
- Altenburg, Benediktinerstift 247
- Ardagger, Pfarrkirche hl. Margarete 260
- Dürnstein, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt 264
- Geras, Prämonstratenser-Chorherrenstift 283
- Göttweig, Benediktinerstift 294
- Heiligenkreuz, Zisterzienserstift 315
- Herzogenburg, Augustiner-Chorherrenstift 335
- Horn, Piaristenkirche 347
- Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift 352
- Krems, Piaristenkirche 367
- Krems, Pfarrkirche St. Veit 380
- Lilienfeld, Zisterzienserstift 386
- Melk, Benediktinerstift 408
- St. Marein, Pfarrkirche hl. Maria 434
- St. Pölten, Dom- und Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 436
- Seitenstetten, Benediktinerstift 452
- Wiener Neustadt, Zisterzienserstift Neukloster 466
- Zwettl, Zisterzienserstift 477
- III. Sakralbauten in Oberösterreich 500
- Baumgartenberg, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 500
- Kremsmünster, Benediktinerstift 512
- Lambach, Benediktinerstift 534
- Linz, Jesuitenkirche (Alter Dom) 551
- Linz, Karmelitenkloster 566
- Linz, Seminarkirche Hl. Kreuz 572
- St. Florian, Augustiner-Chorherrenstift 580
- Schlägl, Prämonstratenser-Chorherrenstift 607
- Schlierbach, Zisterzienserstift 621
- Waldhausen, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 631
- Wilhering, Zisterzienserstift 638
- Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick – Glossar – Verzeichnisse –
- Literatur
- Zusammenfassung und Ausblick 659
- Zum Aufbau des Buchs 659
- Historischer Abriss 660
- Entwicklungsgeschichte der Kirchenmöbel 661
- Zur Einrichtung verschiedener Räume in Kirchen und Klöstern 662
- Zur Hierarchie sakraler Einrichtungen 663
- Die Auftraggeber und ihr Einfluss auf die Kunstentwicklung 663
- Zum Verhältnis zwischen Auftraggebern, Architekten und Handwerkern 665
- Zu den Tischlern 665
- Stilistische Entwicklung der Möbel 666
- Regionale Besonderheiten 667
- Fazit und Ausblick 668
- Glossar 670
- Ortsindex 678
- Künstlerverzeichnis 682
- Abkürzungsverzeichnis 688
- Abbildungsnachweis 692
- Literaturverzeichnis 693