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1.1 Auto/Biographieforschung | 35
lichen Lebensverlaufs verwendet (ohne dies bewusst so zu formulieren) und da-
mit der im literaturwissenschaftlichen Kontext üblichen Definition folgt, weichen
einzelne Darstellungen ab und verweisen auf eine mögliche Mehrdeutigkeit bezie-
hungsweise ein weiter gefasstes Verständnis von Biographie. Meine eigene Position
und damit auch die diesem Buch zugrundeliegende Deutung finde ich im genannten
Handbuch weitgehend übereinstimmend in der Definition der Kulturwissenschaf-
terin Astrid Erll:
„Bei ‚Biographie‘ handelt es sich […] um einen Kollektivsingular (R. Koselleck), bei dem
zumindest zu unterscheiden ist zwischen (1) der Biographie als dem Geschehen eines in-
dividuellen Lebens (dies ist der Gegenstand der psychologischen und sozialwissenschaft-
lichen Biographie- und Lebenslaufforschung) und (2) der ‚Bio-Graphie‘ im Wortsinne als
Vertextung bzw. besser: mediale Repräsentation eines solchen Lebens, wie sie im Rahmen
der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Belletristik und anderer popu-
lärer Medien erfolgt. Im ersten Wortsinn ist Biographie ein Gegenstand, im zweiten ein
Medium des kollektiven Gedächtnisses.“6
Wie Erll schließe ich – durchaus auch in Übereinstimmung mit der populären Be-
griffsverwendung7 – „das Geschehen eines individuellen Lebens“, also den Lebens-
lauf an sich, in den Begriff ein, sehe die Biographie also nicht (nur) als literarisches
Genre oder Darstellungsform und umgekehrt den Lebenslauf nicht als „Bestandteil
einer vorliterarischen Wirklichkeit“, wie dies bei Christian von Zimmermann for-
muliert ist.8
Ebenso erklärungsbedürftig zeigt sich die Begrifflichkeit der Autobiographie. In
der klassisch typologischen Zuschreibung wäre die Autobiographie von der Biogra-
phie vor allem dadurch zu unterscheiden, dass sich der Autor oder die Autorin als
ident mit dem biographierten Subjekt erweist. Die Autobiographie wäre demnach
eine Sonderform der Biographie mit spezifischen Merkmalen. In der grundlegenden
6 Astrid Erll, Biographie und Gedächtnis, in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, 79–86, 81
f.
7 Vgl. dazu die Erläuterungen in gängigen Nachschlagewerken, wie Duden online, wo es unter dem
Eintrag Biographie heißt: „1. Beschreibung der Lebensgeschichte einer Person, 2. Lebenslauf, Le-
bensgeschichte eines Menschen“, vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Biografie (2.9.2019).
Wikipedia hingegen definiert – in der derzeitigen Darstellung, die ja durchaus wandelbar ist! – die
Biographie nur als die „Lebensbeschreibung einer Person“, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bio-
grafie (2.9.2019).
8 Zimmermann, Biographische Anthropologie, 10. Ein solches Modell einer Gegenüberstellung ei-
nes realen, faktischen und damit „wahren“ Lebenslaufs mit einer literarischen, durch die Konstruk-
tion fiktiven Biographie erscheint mir zu eindimensional, es besteht die Gefahr, die gegenseitige
(diskursive) Beeinflussung dadurch aus dem Blick zu verlieren.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463