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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung42
Zweifelsohne stand Misch im Kontext seiner Zeit, indem er seine Forschungs-
arbeit dem Paradigma der zeitgenössischen Kulturgeschichte einschrieb und die
autobiographische Reflexionsfähigkeit in Zusammenhang mit der Entwicklung der
europäischen Kultur und Zivilisation setzte:
„Der eigenste Kern der europäischen Selbstbesinnung aber ist die Gestaltung des Lebens
aus dem Bewußtsein der Persönlichkeit. Dieses Bewußtsein gehört nicht zum gemeinsa-
men Besitz der Völker, im hellen Licht steigernder Kulturarbeit ist es allmählich erworben
worden [...]“28
Während Misch sein Opus magnum zur Autobiographie verfasste und herausgab,
machten sich andere DenkerInnen der Zeit daran, die Begrifflichkeit des Subjekts,
ohne die Auto/Biographie nicht denkbar zu sein scheint, zu hinterfragen. Nicht erst
in der Postmoderne, schon um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20.
Jahrhundert
geriet die Vorstellung des Subjekts als Entität und zu beschreibende Größe ins Wan-
ken. Einerseits wurde die Entwicklung des biographischen Subjekts, die Vorgänge
von Individuation im Sinne einer psychoanalytischen Betrachtungsweise stärker in
die Biographik aufgenommen. Es kam zu einer Psychologisierung der Biographik
bis hin zu „psychopathographischen“ Arbeiten, die gerade in der Künstlerbiogra-
phik eine zentrale Rolle spielten, in der die „Pathologisierung des Künstlers“ zum
neuen Paradigma geworden war.29 Andererseits wurde die Biographie als solche
– mit dem dahinterstehenden Grundkonzept von Subjekt und Identität – gene-
rell in Frage gestellt. Die Fragmentierung des Subjekts in der Moderne – nirgends
deutlicher sichtbar als in der bildenden Kunst – zeigte ihre Auswirkungen auch in
Bezug auf die Biographik. Wie kann ein fragmentiertes Subjekt biographisch er-
fasst werden? Die Literaturwissenschafterin Konstanze Fliedl verwies in diesem Zu-
sammenhang auf das scheinbare Paradoxon, dass gerade die Vertreter einer neuen
literarisch-philosophischen Moderne wie Arthur Schnitzler oder Hermann Bahr
durchaus „traditionelle“ Autobiographien verfasst hatten, und sie stellte die Frage:
„[…], wie kann denn an eine zusammenhängende Geschichte eines Ich überhaupt
noch geglaubt werden, wenn Kontinuität und Identität als Regulative der Welterfah-
rung schon einmal verabschiedet worden sind? Wieso fallen Autoren, denen Machs
‚unrettbares Ich‘ geläufig und vertraut war, sogar auf eine teleologische Entwicklung
28 Misch, Geschichte der Autobiographie, 18.
29 Vgl. Bettina Gockel, Die Pathologisierung des Künstlers. Künstlerlegenden der Moderne, Berlin
2010; als zeitgenössisches Referenzwerk vgl. Wilhelm Lange-Eichbaum, Genie, Irrsinn und Ruhm.
München 1928.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463