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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung52
würdigkeit aufweist, erwiesen sich Künstler (und hier wird bewusst die männliche
Form verwendet), sofern ihr Werk sie zu „herausragenden“ Persönlichkeiten defi-
nierte, unbedingt als biographiewürdig. In diesem Zusammenhang erweist sich die
Künstlerbiographie, neben vielen anderen im Folgenden näher ausgeführten Funk-
tionen, als zentrales Instrument der Kanonisierung.
Die Geschichte der Künstlerbiographik verfügt über einen klaren Anfangspunkt:
Giorgio Vasaris Werk „Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani
da Cimabue insino a’ tempi nostri“ aus dem 16. Jahrhundert markiert den Beginn
einer bis heute anhaltenden Tradition der Lebensbeschreibung bildender Künstler.59
Vasaris Monumentalwerk gab dabei Narrative vor (bzw. nahm diese in die schriftli-
che Überlieferung auf), die für viele Jahrhunderte prägend blieben. In vielerlei Hin-
sicht markieren Vasaris Viten eine kunstgeschichtliche Wende: Erstens verweisen
sie auf den Wandel der sozialen Rolle des Künstlers in der Renaissance, der erst in
jener Epoche vom namenlosen Handwerker und Auftragnehmer zum individuellen
und gefeierten Künstler aufstieg – und damit erstmals auch Biographiewürdigkeit
erlangte. Zweitens steht Vasari als „Vater der Kunstgeschichte“60 am Beginn einer
Kunstgeschichtsschreibung, in der interessanterweise nicht die Analyse des Werks,
sondern die Biographie des Künstlers im Zentrum stand. Die Kunstgeschichte war
damit in ihren Anfängen eine „Künstlergeschichte“, wie es Karin Hellwig treffend
formulierte.61
Dies blieb im Wesentlichen bis in das 20. Jahrhundert hinein bestehen, also auch
nach der Etablierung der Kunstgeschichte als selbständiger Wissenschaftszweig im
19.
Jahrhundert. Erst im 20.
Jahrhundert wurde dieser Zugang, parallel zu den oben
genannten Strömungen in Bezug auf das Verständnis des Subjekts im geistes- und
sozialwissenschaftlichen Kontext, in Frage gestellt. Schon im frühen 20. Jahrhun-
59 Künstlerviten wurden zwar schon vor Vasari erzählt und vereinzelt auch aufgeschrieben, Vasaris
Werk unterschied sich aber vor allem durch seinen Umfang und ganzheitlichen Anspruch von
seinen Vorläufern. Es erschien in einer ersten Fassung im Jahr 1550, endend mit der Biographie
Michelangelos, eine zweite erweiterte Fassung stammt aus dem Jahr 1568 und endet mit Vasaris
eigener Biographie. Das Werk liegt seither in unzähligen Übersetzungen und meist gekürzten Edi-
tionen vor, die italienische Originalausgabe und die erste vollständige deutschsprachige Überset-
zung aus dem 19. Jahrhundert sind auch online als Digitalisat über mehrere Bibliothekskataloge
zugänglich. Ich beziehe mich hier auf folgende Ausgabe: Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnets-
ten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Hg. von Ludwig Schorn,
Stuttgart, Tübingen 1832.
60 Die Bezeichnung geht zurück auf Jacob Burckhardt, Kunstgeschichte, in: Allgemeine deutsche
Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände 8, 1844, zit. nach: Karin Hellwig, Von der Vita zur
Künstlerbiographie, Berlin 2005, 14.
61 Karin Hellwig, Kunstgeschichte, in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, 349–357, 349.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463