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1.2 Künstlerauto/biographie | 57
erkannte, daß der Zugang zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit über die
Kenntnis ihrer Lebensgeschichte führt. Dabei hat man gerade den frühesten Lebensein-
drücken besondere Bedeutung beizumessen gelernt, da sich die künftigen Schicksale der
Persönlichkeit vielfach bis auf diese ersten Prägungen zurückführen lassen.“75
Der Jugend des Künstlers wird aber in beiden Modellen – so Kris/Kurz – zentrale
Bedeutung beigemessen, Jugendanekdoten gehören zu den festen „biographischen
Formeln“. Hingewiesen wird dabei auf konstante narrative Elemente in diesen Er-
zählungen: Künstlerischer Ausdruck „drängt“ nach draußen; die Entdeckung erfolgt
zufällig; das jugendliche Talent setzt sich meist gegen äußere Widrigkeiten durch;
das echte „Ingenium“ bewährt sich immer, oder wie es bei Vasari in Bezug auf Gio-
vanni Bellini paradigmatisch heißt:
„Was auf natürlichen Gaben beruht, mag sein Beginn auch klein und unbedeutend er-
scheinen, steigt allmählich mehr und mehr und läßt nicht nach, bis der höchste Gipfel des
Ruhmes erreicht ist.“76
Kris und Kurz verwiesen auf die mythologischen Wurzeln solcher „Wunderkindge-
schichten“, ordneten diese aber auch in den zeitgenössischen Psychoanalyse-Diskurs
ein, indem sie sich auf Freuds Thesen aus dessen „Familienroman“ (1909)77 beriefen.
Es geht darin um kindliche Stiefkindphantasien, das heißt um die Imagination des
Kindes, „nicht Kind seiner Eltern [zu] sein, sondern auf die eine oder andere Weise
unterschoben, von höherer Abkunft, ein verkannter Held, der noch auf seine Entde-
ckung hoffen darf“.78
Thomas Mann, der den von Kris 1935 veröffentlichten Beitrag „Zur Psychologie
älterer Biographik“79 kannte, zeigte sich von der „Arbeit eines Wiener Gelehrten aus
der Schule Freuds“ sehr beeindruckt und zitierte diesen anlässlich eines Vortrags zu
Sigmund Freuds 80. Geburtstag ausführlich:
75 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 37.
76 Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, 128f.
77 Sigmund Freud, Der Familienroman der Neurotiker (1909), in: Sigmund Freud, Gesammelte
Werke Bd. 7. Hg. von Anna Freud, Frankfurt am Main 1966, 225–231.
78 Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, 62
f. Vgl. dazu Steffen Krüger, Die Legende vom Künstler als
Propagandastrategie, in: Steffen Krüger/Thomas Röske (Hg.), Im Dienste des Ich. Ernst Kris heute,
Wien 2013, 99–117, 112 ff.
79 Ernst Kris, Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an der des bildenden Künstlers), in:
IMAGO. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen 21
(1935) 3, 320–344.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463