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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung60
sich als zusammengehörige Gruppe, als „Brüder einer erlauchten Gemeinde“.88 Inte-
ressant sei das Beziehungsgefüge, das sich zwischen der nichtschöpferischen Menge
und den „Genies“ ergebe, denn bedingt durch die scheinbar unüberwindbare Kluft
sei es der großen Menge nicht möglich, das Genie als solches zu erkennen und wert-
zuschätzen, wodurch sich der Terminus des „verkannten Genies“ ergebe. Während
die Mitwelt verständnislos bleibe, verhalte es sich mit der Nachwelt anders: Erst
diese könne das Genie erkennen, der Trost schließlich für das verkannte Genie.
Angewandt auf die Künstlerauto/biographik stellt sich die Frage, ob es nicht zu-
letzt diese Perspektive auf die Nachwelt ist, die bewusste Nachlass- und autobiogra-
phische Arbeit so interessant und wichtig macht, in Hinblick auf ein künftiges (und
wahres) Publikum. Die Biographik hat nach Zilsel jedenfalls keinen unwesentlichen
Anteil am Genie-Kult:
„Leben wir doch alle in ständiger Berührung mit dem Persönlichkeitskult und seinen Äu-
ßerungen. In den Schaufenstern unserer Buchhandlungen können wir die Biographien
und Briefe Goethes, Beethovens, Schopenhauers, Wagners erblicken. Unsere Schriftsteller
schreiben Romane und Novellen über Leonardo da Vinci, Schiller, Spinoza, Schubert, Ty-
cho de Brahe, Friedrich den Großen, Goethe und Theophrastus Paracelsus. Unsere Mu-
siker zeigen uns auf der Bühne, wie Schubert und Palestrina leben und komponieren.“89
Mit dem Verweis auf die dogmatischen Prinzipien und die äußeren Formen, die
ein solcher Persönlichkeitskult annehmen kann, begründete Zilsel den Terminus
der Geniereligion. Nach dem Bedeutungsverlust der Religion durch das Zeitalter der
Aufklärung sei die Geniereligion kompensatorisch zu sehen, quasi göttliche Vereh-
rung gelte nun den Künstlergenies:
„Ja, es darf kaum bezweifelt werden, daß die Gemütsbedürfnisse, aus denen unser Genie-
begriff erflossen ist, mit den religiösen Bedürfnissen aufs nächste verwandt ist. [...] Diese
religionsähnliche Natur der Genieverehrung hat es ermöglicht, daß religiöse Skeptiker
[…] als Ersatz für die vermeintlich überlebten Konfessionen die Verehrung unserer klas-
sischen Dichter und Musiker vorschlagen konnten.“90
88 Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit
einer historischen Begründung. Hg. und eingeleitet von Johann Dvorak, Frankfurt am Main 1990
[EA 1918], 59.
89 Zilsel, Geniereligion, 51 f.
90 Zilsel, Geniereligion, 53.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463