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1.2 Künstlerauto/biographie | 61
Als Verkünder der Geniereligion nannte Zilsel den deutschen Philosophen Ar-
thur Schopenhauer, den englischen Historiker und Biographen Thomas Carlyle und
für das 19. Jahrhundert Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain und Otto
Weininger.91
Schopenhauer und Wagner waren dem amerikanischen Historiker Carl Pletsch
zufolge die bestimmenden Vorbilder für Friedrich Nietzsche in dessen Genie-Kon-
struktion. In seiner Biographie über Friedrich Nietzsche „Young Nietzsche. Beco-
ming a Genius“ legte Pletsch eindrücklich dar, wie der junge Nietzsche anhand sei-
ner Vorbilder das Rollenmodell des Genies auf sich anzuwenden lernte. So heißt es
bei Pletsch:
„Nietzsche had finally found an approachable model of genius from whom he could learn
the role and then visualize himself playing it. Nietzsche’s intellectual persona changed
from the moment he came under Wagner’s influence. […] in that period he learned a great
deal more about the role of the genius from Wagner’s example: in particular, the absolute
egotism of the genius, which did not come at all naturally to Nietzsche. It was this role, that
Nietzsche learned from Wagner, that fitted him to his creative mission. It permitted him
to complete his transformation from a provincial son of a Lutheran pastor and sometime
professor of philology into a world-renowned nihilist philosopher. […] Nietzsche’s life
demonstrates that genius is not born, but made, and by a process far less magical than the
romantic ideology of genius may make it seem.”92
Zur Persona oder zum Habitus des jungen Genies gehörte auch die auto/biogra-
phische Selbstbespiegelung. So schrieb der junge Nietzsche (im Alter von vierzehn
Jahren!) eine erste Autobiographie mit dem Titel „Aus meinem Leben“. Er über-
nahm damit also den Titel von Johann Wolfgang von Goethes Autobiographie, dem
Referenzwerk schlechthin, wenn es um Autobiographien von Künstler-Genies geht.
Und nur wenige Jahrzehnte später, nämlich 1911, stellte sich der Künstler Alfred
Kubin, im Übrigen Verehrer aller bei Zilsel genannten Proponenten der Geniereli-
gion wie Schopenhauer, Wagner und Weininger und natürlich auch von Nietzsche,
91 Zilsel, Geniereligion, 51
f. Über Weininger berichtete dessen Freund Artur Gerber: „Daß er [Anm.:
Weininger] selbst ein Genie sein müsse, war ihm bewußt. […] Er studierte die Biographien jener
bedeutender Männer, die er besonders liebte, und forschte in ihren Werken, ob nicht Wesens-
elemente erkennbar wären, die auch er besaß. Alles, was er über Genie und Genialität sagte und
schrieb, war von Selbstbeobachtung stark beeinflußt.“ Artur Gerber, Ecce homo!, in: Paulus Man-
ker (Hg.), Weiningers Nacht, Wien 1988, 89–95, 90.
92 Carl Pletsch, Young Nietzsche. Becoming a Genius, New York 1991, 12 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463