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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung76
Wenig thematisiert werden die umfassenden Transformationsprozesse, denen
die Quelle Tagebuch im Fall einer Publikation unterworfen ist. So ist es dringend
notwendig, leider aber nicht immer selbstverständlich, bei Verwendung autobio-
graphischer Quellen wie Brief oder Tagebuch zu berücksichtigen, ob die Quelle im
Original eingesehen werden konnte oder aus einer edierten Fassung stammt.127 Ein
ediertes Tagebuch unterscheidet sich selbstverständlich vom Original, und dies auf
vielen Ebenen und auch bei sorgfältiger Editionsarbeit. Auf die dabei betroffenen
zahlreichen relevanten Ebenen verwies Arno Dusini und nannte im Wesentlichen:
die Architektur der Textträger, das Format, die Schrift, das Schreibzeug, das Schreib-
material.128 Am offensichtlichsten erscheint die Transformation, wenn es sich um die
Übertragung eines handschriftlich verfassten Textes in ein Typoskript handelt. Nicht
nur verliert sich die Einsicht in eine individuelle Handschrift, auch andere zahllose
quellenkritisch relevante Markierungen lassen sich – selbst bei penibler Editionsar-
beit – nicht mehr vorfinden: Wirkt ein Text flüssig, wirkt er bemüht, mit zahllosen
Streichungen und Überarbeitungen, wie ist ein Absatz angesetzt, wo befinden sich
Abstände, verändert sich die Schrift, warum endet ein Text abrupt (vielleicht nur
aufgrund des zu Ende gegangenen Papiers)? Die „Materialität des Diaristischen“129
ist daher ein Punkt, dem in der aktuellen Tagebuchforschung zurecht intensiv nach-
gegangen wird, nachdem gerade dieses Feld in der historischen Quellenkritik lange
methodisch vernachlässigt wurde.
Die bereits erwähnte Handschrift führt auch wieder zur Frage nach Spezifika im
Falle von Künstlertagebüchern, bei denen die Schrift als künstlerische Ausdrucks-
form zweifellos noch mehr Beachtung verdienen muss. Ähnlich wie beim hand-
schriftlichen Brief ist auch beim Tagebuch die Grenzziehung zum künstlerischen
Œuvre schwer zu vollziehen. Als Autographen haben selbst kleine Notizen von be-
rühmten KünstlerInnen oft enormen Marktwert. Die Materialität steht damit in der
Bedeutung vor jener des Inhalts, was eine Umkehrung der üblichen Bedeutungszu-
schreibung von Briefen oder Tagebüchern bedeutet. Der Übergang vom „normalen“
– meint in diesem Kontext: textorientierten – Tagebuch zum Künstlertagebuch, das
127 Im Rahmen dieser Studie wird dies in den jeweiligen Quellennachweisen immer klar ausgewiesen
und gegebenenfalls auch thematisiert. Bei Vorliegen von Editionen wurde nach Möglichkeit auf die
Originale der Quellen zurückgegangen.
128 Dusini, Tagebuch, 50 f.
129 Vgl. Li Gerhalter, Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von
Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische
Geschichtswissenschaft 24 (2013) 2, 53–71. An dieser Stelle möchte ich Li Gerhalter, Arno Dusini
und allen anderen TeilnehmerInnen des von Volker Depkat organisierten Workshops „Tagebücher
zwischen Text und Quelle“ an der Universität Regensburg, 21.–22.11.2014, für die anregenden
Diskussionen danken, die mich in Bezug auf die vorliegende Arbeit sehr inspiriert haben.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463