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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 85
dreißig Seiten. Sie trägt den Titel „Aus meinem Leben“ und ist unterteilt in zwei Ka-
pitel. Gehalten in der Form einer zeittypischen Biographie, in der chronologischen
Entwicklung an die Form eines klassischen Entwicklungs- oder Bildungsromans an-
gelehnt, beginnt die Erzählung mit Kubins Geburt im Jahr 1877 und reicht bis in das
Jahr, in dem der Bericht verfasst wurde, also 1911. Kubin war zu diesem Zeitpunkt
34 Jahre alt. Dies ist in mehrerlei Hinsicht interessant: Erstens verweist es auf Kubins
Selbstverständnis, sich bereits in relativ jungen Jahren für „biographiewürdig“16 zu
halten, andererseits zeigt sich an vielen Stellen, dass die Distanz zum Erzählten zeit-
lich noch nicht groß ist. Eine Rückschau zu einem späteren Zeitpunkt hätte zweifel-
los andere Perspektiven und Gewichtungen eingenommen.17
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Kindheit und Jugend, das zweite Kapitel
setzt mit dem als Wendemarke empfundenen Umzug nach München ein. Ganz klar
stellte Kubin mit dieser Zweiteilung des Textes eine Unterteilung seines bisherigen
Lebens her: In eine als belastend empfundene Kindheit und Jugend und eine als
befreiend wahrgenommene Lebensphase danach, in der er seinen Weg als Künstler
und Mensch finden konnte. In vielen Passagen weist der Text damit gattungstypi-
sche Motive einer Adoleszenzerzählung auf, an dessen Ende ein gereifter Mensch
und Künstler steht.
Zu Beginn der Erzählung widmete sich Kubin den Bildern seiner frühesten Er-
innerungen, zu denen „das schmale, blasse Gesicht meiner Mutter“18 gehörte. Den
Vater habe er erst nach Jahren dienstlich bedingter Abwesenheit kennen gelernt
und als hereinbrechenden Störenfried empfunden. Die konfliktreiche Beziehung
zum Vater prägte Kubins Leben, bereits zu Beginn der Autobiographie wurde mit
dieser Erinnerung der Faden dazu aufgenommen. Die Schule erscheint in Kubins
16 Zum Begriff der „Biographiewürdigkeit“ vgl. Kapitel 1.1 sowie Hannes Schweiger, ‚Biographie-
würdigkeit‘, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien,
Stuttgart, Weimar 2009, 32–37.
17 Als Beispiel: In nur sehr knapper Erwähnung berichtete Kubin im 1911 verfassten Teil seiner Au-
tobiographie von seinem 1906 erfolgten Umzug von München in das ländliche Wernstein am Inn.
Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht abzusehen, welche Bedeutung Wernstein und das dortige
Anwesen in Zwickledt in seinem Leben einnehmen würde. Es ist davon auszugehen, dass dies in
einer später vorgenommenen autobiographischen Rückschau mehr Gewicht erhalten hätte.
18 Dieses und die folgenden Zitate aus der Autobiographie werden nach der posthum erschienen Ge-
samtfassung der Autobiographie zitiert: Alfred Kubin, Aus meinem Leben. Gesammelte Prosa mit
73 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemerschmidt, München 1974, hier: 9. Der Nachdruck bei Rie-
merschmidt unterscheidet sich textlich nicht von den Erstfassungen der Publikationen. Aus Grün-
den der Einfachheit und der besseren Zugänglichkeit habe ich mich daher für diese einheitliche
Zitierweise entschieden, wenngleich für die vorliegende Studie natürlich die autobiographischen
Texte jeweils im Original eingesehen und mit den späteren Neuauflagen verglichen wurden.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463