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„Nun kam ein zügelloses Jahr. Es begann mit hochfliegenden, idealen Liebesanwandlun-
gen, welche regelmäßig unerwidert blieben und dann in sexuellen Träumen versande-
ten. Bis dahin hatte ich nämlich nur eine ausgesprochene Verachtung für das weibliche
Geschlecht übrig gehabt, bei der nur wohlerhaltene, reife Frauen von dreißig bis vier-
zig Jahren eine Ausnahme machten. Nun aber interessierte mich auch die gesamte junge
Weiblichkeit. [...] In diesem letzten Klagenfurter Jahr wurden meine Ansprüche auf Ver-
gnügungen sehr reichlich gedeckt.“25
Es ist dies die zweite Erwähnung von Sexualität in der Autobiographie. Schon davor,
im Zusammenhang mit der Zeit nach dem Tod der Mutter, tauchte die Thematik in
folgendem Kontext erstmals auf:
„Nach Ablauf des Trauerjahres heiratete mein Vater wieder und zwar die Schwester mei-
ner Mutter. Über diese Zeit bis zu meinem Eintritt ins Salzburger Gymnasium kann ich in
dieser autobiographischen Skizze ruhig hinweggehen. Nur einen sehr wesentlichen Punkt
muß ich hier streifen. Ich war nämlich gerade elfeinhalb Jahre alt, als ich durch eine ältere
Frau in sexuelle Spielereien verwickelt wurde, was mich maßlos aufregte und bis in meine
frühe Manneszeit seine Schatten warf.“26
Über die Klagenfurter Zeit berichtete Kubin weiter, dass er dort sein Interesse für
das Lesen philosophischer Schriften entdeckt sowie seinen ersten Kontakt mit der
Welt des „Übersinnlichen“ gehabt habe, in Form einer von ihm besuchten Hypno-
sevorführung. Beides hinterließ tiefen Eindruck, habe aber auch seine Nerven über
die Maßen strapaziert. Damit kam zum ersten Mal das Thema der Nervosität, ein
Lebensthema von Kubin, in der Autobiographie ins Spiel. In jener jugendlichen
Phase sei er in eine solch tiefe Krise gestürzt, dass er beschlossen habe, Selbstmord
zu begehen:
„Eine dumpfe Lebensunlust überfiel mich jetzt, und kurz entschlossen wollte ich, nach
einer heftigen Szene, die ich mit einem Kollegen hatte, meinem – wie mir schien – doch
unnützen und verpfuschten Leben ein Ende machen. Zu diesem Zweck fuhr ich mit ei-
nem billigen alten Revolver in der Tasche nach dem weit entfernten Ort meiner Kindheit,
um mich dort am Grabe meiner Mutter zu erschießen. Ich muß heute wehmütig lächeln,
25 Kubin, Aus meinem Leben, 16.
26 Kubin, Aus meinem Leben, 10. In der Kubin-Forschung wurde dieses Erlebnis immer wieder als
Motiv für Kubins aggressive und misogyne Darstellung von Sexualität im Frühwerk dargestellt.
Eine ausführliche Auseinandersetzung damit erfolgt im Kapitel 3.1.1.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463