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Nach jenem Erlebnis wurde Kubin nicht mehr von seinem Lehrherrn aufgenom-
men und er beschloss in die Armee einzutreten. Bei der Stellung gab er an, Mili-
tärkartograph werden zu wollen und eine glühende Begeisterung für das Heer zu
hegen. Kubins autobiographische Schilderung verweist eindringlich auf seine mon-
archie- und kaisertreue Haltung:
„[…] öfters überkam mich ein Glücksgefühl, wenn ich bedachte, daß ich nun, obgleich
nur ein gemeiner Soldat, doch einer so mächtigen Einrichtung, wie es das österreichische
Heer war, angehören dürfe. Manchmal war es mir, als fühlte ich förmlich das unzerreiß-
bare Band völliger Hingabe an Pflicht und Ehre, das vom Kaiser durch alle Grade bis zu
mir, dem Geringsten, reichte.“30
Eine nostalgische Haltung zur österreichisch-ungarischen Monarchie sollte Kubin
zeitlebens behalten. Seine Armeekarriere hingegen endete bald nach ihrem Beginn,
als der junge Soldat Kubin einen „nervösen Anfall“ erlitt und mit psychotischen
Symptomen drei Monate im Garnisonsspital verbrachte. Er führte das Auftreten
jener Krankheit auf das Erbteil seiner Mutter zurück, die ebenfalls „an solchen
Krämpfen“ gelitten hatte.31 Mit dem so dramatischen Abschluss seiner militärischen
Karriere beschloss Kubin das erste Kapitel seiner Lebenserzählung.
Endete das erste Kapitel mit einer Niederlage, nachdem auch das zuvor Erzählte
vorwiegend Demütigungen, Enttäuschungen und Niederlagen beinhaltet hatte,
sollte das zweite Kapitel mit dem Umzug nach München den Beginn eines erfolgrei-
cheren Lebensabschnittes einleiten:
„Ein Freund unserer Familie, ein alter kunstsinniger Notar, der meine Zeichnungen gese-
hen hatte, riet meinem Vater, mich auf die Münchener Malerakademie zu schicken. […]
Daß ich ein gewisses zeichnerisches Talent hatte, wußte ich, aber niemals wäre es mir in
den Sinn gekommen, in dieser Begabung die Grundlage zu meinem späteren Beruf zu
sehen. So reiste ich also aufs Geratewohl im Frühjahr 1898 nach München, mietete dort
ein kleines Zimmer, und der längst verstorbene Schmidt-Reutte nahm mich in seine Pri-
vatschule auf.“32
30 Kubin, Aus meinem Leben, 17–19.
31 Ausführungen zu Kubins psychischer Disposition finden sich u.a. bei Wolfgang K. Müller, Alfred
Kubin in psychiatrischer Sicht, in: Materia Medica Nordmark, Sonderheft (1961), 1–16; Müller-
Thalheim, Erotik und Dämonie.
32 Kubin, Aus meinem Leben, 21.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463