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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 93
Dort lernte ich durch Zufall meine spätere Frau kennen. Sie zeigte Verständnis für meinen
Zustand, wodurch wir einander näherkamen. Sie flößte mir Vertrauen und Liebe ein, ich
besuchte sie häufig, und nach kurzer Zeit schon faßten wir den Entschluß, zu heiraten;
durch diese Verbindung kam ich in gesicherte Verhältnisse. Das war im März 1904.“41
Das Ehepaar Kubin verließ München und bezog das kleine Anwesen Zwickledt in
Wernstein im oberösterreichischen Innviertel. Parallel zu dem durch Heirat und
Umzug ruhiger gewordenen Leben veränderte sich – so Kubin – auch sein Werk
(„Jetzt entstanden Serien harmonisch ausgeführter Blätter“). Selbst mit seinem Va-
ter schien er Frieden geschlossen zu haben. Dessen Tod im Jahr 1907 stürzte ihn
allerdings wiederum in eine tiefe Krise – dies vor allem deswegen, weil der Tod des
Vaters zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tod per se führte. Die Krise
sei der Auslöser für die Entstehung seines Romans „Die andere Seite“ gewesen:
„Als ich dann eine Zeichnung anfangen wollte, ging es absolut nicht. Ich war nicht im-
stande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen. [...] Diesem neuen Phänomen
stand ich erschrocken gegenüber, denn, ich muß es wiederholen, ich war innerlich ganz
und gar mit Arbeitsdrang gefüllt. Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun
an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun
strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so daß
bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman ‚Die andere Seite‘ geschrieben war.
[...] Nachher war ich allerdings erschöpft und überreizt und machte mir bange Gedanken
über dieses Wagnis.“42
Kubins Roman „Die andere Seite“, der sich neben dem Œuvre Gustav Meyrinks oder
Franz Kafkas unter die bedeutendsten Werke deutschsprachiger Phantastik einreiht,
erschien 1909 bei Georg Müller. In der nur zwei Jahre danach verfassten autobiogra-
phischen Betrachtung bezeichnete Kubin die Entstehung des Romans als „klärendes
Zwischenspiel“, das ihm seine Schaffenskraft wieder zurückgegeben und ihm auch
einen klareren Blick auf seine „künstlerischen Fähigkeiten und Grenzen“ gegeben
habe:
„Ich weiß, ich besitze kein starkes formales Talent, und gewisse Härten werden meinen
Arbeiten wohl immer anhaften; ich bin nächst Künstler, Grübler, Seher.“43
41 Kubin, Aus meinem Leben, 32.
42 Kubin, Aus meinem Leben, 40 f.
43 Kubin, Aus meinem Leben, 42.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463