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Künstler, Grübler, Seher – das Bild, das Kubin hier von sich selbst zeichnete, sollte
prägend werden für die weitere Rezeption des Künstlers. Den ersten Teil seiner Au-
tobiographie beendete Kubin mit einer Reflexion seines autobiographischen Rück-
blicks:
„Wir sind bei der Gegenwart angelangt. Blicke ich zurück auf meinen Lebenslauf, so glaube
ich die Zusammenhänge und wichtigsten Punkte meiner Entwicklung ohne große Lücken
gezeigt zu haben. [...] Auf dem Umwege dieser Selbstbiographie, oder eigentlich durch sie,
glaube ich nach Möglichkeit eine Antwort auf eine Frage gegeben zu haben, die man so oft
schon an mich stellte, nämlich: ‚Wie ich dazu kam, solche Sachen zu machen.‘“44
Der erst 34-jährige Künstler schloss seine Erzählung mit einer abgeklärten Sicht auf
das Leben und den Tod:
„Eine tiefe Resignation bildet allerdings seit Jahren meine Grundstimmung. [...] Und da
ich viel geschaut und erlitten habe und am Leben nicht mehr so unbedingt wie einstens
hänge,[...] erfasse ich auch die Idee des Todes ohne große Besorgnis, und es beunruhigt
mich nicht allzusehr, ob er mich nach Ansicht derer, die etwas davon zu verstehen vor-
geben, dem Nichts oder dem Allbewußtsein oder einer neuen Sonderexistenz zuführt.“45
Erweiterte Fassung (1917): Kapitel I und II mit dem neuen Kapitel III
Eine Fortsetzung der autobiographischen Erzählung wurde nicht angekündigt, er-
folgte aber nur wenige Jahre später: 1917 gab der Georg-Müller-Verlag eine Neuauf-
lage des 1909 erschienen Romans „Die andere Seite“ von Alfred Kubin heraus und
versah diese mit einer „Selbstbiographie des Künstlers“. Diese bestand aus den zwei
bereits bekannten und einem neu hinzugefügten dritten Kapitel, in dem sich einlei-
tend Hinweise auf dessen Entstehungskontext finden:
„Mit dieser skeptischen Haltung endete die autobiographische Studie, die ich meiner
Sansaramappe voraussetzen ließ. Nun, acht Jahre später,46 wird die ‚Andere Seite‘ neu
gedruckt, und ich benutze gern diese Gelegenheit, um ebenso knapp nach den alten Ge-
44 Kubin, Aus meinem Leben, 43.
45 Kubin, Aus meinem Leben, 44.
46 Diese Angabe bezieht sich offenbar nicht auf die Sansara-Mappe (1911), sondern auf die Erstaus-
gabe der „Anderen Seite“ (1909). Das heißt, zwischen dem ersten Teil der Selbstbiographie und der
Fortsetzung liegen nur sechs Jahre Abstand (1911–1917).
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463