Page - 96 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 96 -
Text of the Page - 96 -
| 2 KünstlerInnen über
sich96
„Ich zog mich von meiner Umgebung, selbst von meiner Frau zurück, brach allen Brief-
wechsel mit Verwandten und Freunden ab50 und machte einige letzte Verfügungen über
meinen Besitz, der mir wie meine Kunst ganz gleichgültig, fremd geworden war. Meine
Frau bat mich, wenigstens im Haus zu schlafen, und so richtete ich mir einen kleinen
Raum, in welchem ich nur einen Strohsack und einen Waschtisch ließ, als ‚Zelle‘ ein. […]
Ich aß weniger als sonst, möglichst kein Fleisch, und wanderte stundenlang bei jedem
Wetter umher. Einmal entfernte ich bei Regen Tausende von Würmern von der Land-
straße, damit sie nicht umkämen. Ich war meist sehr glücklich, vor jeder Zerrissenheit ge-
feit, und erlebte in einer Dauerekstase solche Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie mir früher
oft für meine Bilder ausgedacht hatte und wie sie die Legende etwa dem heiligen Antonius
zuschreibt. [...] Grimms Buch legte ich schon in den ersten Tagen beiseite und griff zu der
Sammlung der Reden Buddhas, die ich schon besaß. Ich las daraus am Abend ein oder
zwei Suttas, löschte das Licht, und indem ich die empfohlenen Atemübungen begann,
blieb ich in tiefste Betrachtung versunken meist ausgestreckt auf dem Rücken liegen bis
zum grauenden Tag. Geschlafen habe ich diese ganze Zeit niemals, doch umfing mich
öfters ein angenehmes weiches Dämmern.“51
Die intensive buddhistische Phase endete aber ebenso jäh wie sie begonnen hatte:
„Die Atemübungen griffen stark an, und ich spürte schon nach wenig Tagen in der Herz-
gegend einen ständigen Druck, den ich wie einen Alp mit mir herumschleppte. Einmal
beunruhigte mich ein oft wiederkehrendes Herzklopfen zu stark, Angst würgte mich am
Hals – da stieß ich den ganzen Buddhismus von mir, das vertraute, altgewohnte Leben
wieder umarmend. Dies geschah am 12. März 1916. Die Krise hatte genau zehn Tage
gedauert.“52
Nicht zuletzt durch die ungewöhnlich genaue Datierung wird das Ereignis in der
Autobiographie zu einer wichtigen Lebenswende stilisiert. Erst durch die Heftigkeit
der Krise – so das Narrativ – konnte der Suchende seine Ruhe und sich selbst finden.
„Ich bin durchdrungen von der Überzeugung, einen grundsätzlich neuen Beginn zu er-
leben. Diese ganze Entwicklungsgeschichte läßt sich zusammenfassen in einige große
50 Tatsächlich schrieb Kubin seinen engsten Freunden Abschiedsbriefe. Vgl. z.B. AK an Fritz Herzma-
novsky-Orlando, Zwickledt 26.3.1916, zit. nach Fritz Herzmanovsky-Orlando, Der Briefwechsel
mit Alfred Kubin 1903 bis 1952. Hg. und kommentiert von Christian Klein, Salzburg, Wien 1983,
142 f.
51 Kubin, Aus meinem Leben, 54 f.
52 Kubin, Aus meinem Leben, 45.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463