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„Es sind fast zehn Jahre vergangen, seit ich die Schlußworte des vorigen Kapitels schrieb.
Mitten in der Zeit eines schreckensreichen Krieges bezeugen sie das gewonnene größere
Gleichgewicht nach zahllosen Schwankungen. Meine Zuversicht hat sich bewährt; nie
mehr habe ich die innern Zügel ganz und gar verloren und bin bisher mit den ungeheu-
erlichen Dingen, die uns alle trafen, auf meine Weise fertig geworden. Nun schreiben wir
das Jahr 1926. Es ist mein fünfzigstes.“57
Der 1926 verfasste Teil der Autobiographie fokussierte stärker als bisher auf „äußere
Vorgänge“, konkret auf den Ersten Weltkrieg. Brachte das zuvor und damit während
des Krieges verfasste Kapitel kaum Beschreibungen des Kriegsalltags, finden sich
nun verschiedene Erzählungen dazu. Als Schlüsselerlebnis schilderte Kubin eine
Zugfahrt vom oberösterreichischen Micheldorf nach Linz in den letzten Kriegsta-
gen 1918, bei der er eine Gruppe Deserteure vom Fenster aus sah und bei ihrem
Anblick die Gewissheit vom „Ende meines geliebten alten Österreich“ empfunden
hatte.58
Der Bericht konzentrierte sich weiter auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die
die „äußeren Vorgänge“ in sein eigenes Leben brachten, im Konkreten die „Geld-
wirtschaft“ der Nachkriegsjahre. Kubin verwies auf seinen „mit Ängstlichkeit ge-
paarten, übertriebenen Respekt vor der ganzen Rechnerei“, der ihn zeitlebens ver-
folgte. Zahlen generell seien ihm „etwas Peinvolles, jedes Operieren damit, jegliche
Rechnung haucht mich kalt an.“ Diese Feststellung korreliert abermals mit gängigen
Künstler
stereotypen, nach denen künstlerische Kreativität und die nüchterne Welt
der Zahlen einander diametral gegenüberstünden. Im Falle Kubins bedeutete dies
aber nicht, dass er sich von der Welt der Finanzen abwandte, ganz im Gegenteil war
ihm seine finanzielle Lage immer zentrales Thema und Grund zur Klage. Ganze
drei Seiten waren denn auch in diesem Kapitel der Autobiographie den finanziellen
Schwierigkeiten der Nachkriegssituation gewidmet: Geld verschwand in Kriegsan-
leihen, der Immobilienbesitz von Hedwig Kubin in Frankfurt musste verkauft wer-
den, für den Erlös gab es lediglich einen neuen Ofen. Nach drei Seiten detaillierter
Schilderung der Geldmisere schließlich ein überraschendes Fazit:
„Wer aber glaubt, daß diese trostlose Geldlage mich dauernd verstimmen könne, täuscht
sich sehr. Der Schaffenstrieb ist bei mir so elementar, ihm nachzugehen beglückt so sehr,
daß ich mich auch als ein um sein Erworbenes Geprellter nicht wesentlich anders fühle als
vorher. Ja gewiß, aus irgendeiner Ursache nicht schaffen können – ich erlebte auch solche
57 Kubin, Aus meinem Leben, 59.
58 Kubin, Aus meinem Leben, 60.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463