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folgte eine pessimistische Anmerkung hinsichtlich der „unsympathischen Konstel-
lationen“ der wirtschaftlichen Verhältnisse und der bemerkenswerte Satz: „Man re-
signiert ja schon lange in dem Bewußtsein, in dieser Zeit außer für sich selbst doch
nur für einen kleinen Kreis echt verstehender freundlicher Geister zu schaffen.“ Und
wie immer endete auch dieser Abschnitt der Selbstbiographie mit einem philosophi-
schen Abschlussgedanken:
„Aber auch neuer Lebenseifer treibt uns dann an, den Tag zu nützen, das Werk zu fördern.
Das ist ja wohl der letzte, eigentliche Sinn des Künstlers, daß er dem Unsinn des Lebens
einen Schleier in seiner Schöpfung überwirft, einen dünnen, deckenden Schleier über
den Abgrund chaotischer Kräfte, die für uns buchstäblich nichts sind gegenüber jener
vorgespiegelten Welt, die unsere Wahrheit vorstellt, und sei es auch eine Illusion in der
verrinnenden Zeit.“65
Kapitel VI, das geplante Schlusskapitel (1946)
1946 verfasste Kubin das sechste Kapitel der Autobiographie, für eine geplante Neu-
ausgabe der „Anderen Seite“.66 Im Einleitungspassus bezeichnete Kubin diesen Teil
als „kurze Fortsetzung sowie Beschluß der autobiographischen Studie“. Er verwies
darauf, dass 15 Jahre vergangen seien, seit „im Rahmen dieser Schrift die letzte
Eintragung entstand“. Diese Jahre beinhalteten die für Kubin zweifellos enorm ein-
schneidenden Jahre des NS-Regimes, zu denen er ein Gesamturteil, aber keine nä-
heren Ausführungen gab:
„Über das braune Regiment und seinen Krieg kann ich hier nur wenige Bemerkungen ma-
chen, obgleich es das furchtbarste Schicksal war, das uns alle betroffen hat. Denke ich an
mich und meine Kollegen, gepflegte Künstlermenschen, so scheint mir erst recht wider-
wärtig, was da heraufkam. Ein Urteil über die Kunstkammer des Dritten Reichs erspare
ich mir lieber – jetzt Eselstritte auszuteilen, wäre leicht. [...] Oh, diese Toren, politischen
Revolutionäre, seelisch unheilvoll Angesteckte, oder wie immer man sie nennen mag, wel-
che uns den Krieg nach innen und außen brachten! Nun gilt es, Aussichten ins Künftige zu
finden, die höllische Fratze haben wir überstanden, finden wir uns also nach Möglichkeit
zurecht in ihrem schauerlichen Nachlaß.“67
65 Kubin, Aus meinem Leben, 76.
66 Die Neuauflage der „Anderen Seite“, für die Kubin 1946 auch neue Illustrationen angefertigt hatte,
erschien erst 1952 im Verlag Wolfgang Gurlitt, Wien, Linz, München. Die Autobiographie wurde
darin aber nicht publiziert.
67 Kubin, Aus meinem Leben, 77.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463