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er ‚Geschichten‘. Die meisten der in diesem Buch enthaltenen Erzählungen wurden auch
wirklich erzählt, jedesmal ein wenig anders, vervollständigt und entwickelt – je nach sei-
ner Zuhörerschaft. Bei seinem Vortrag in der Prager Urania erzählte er über seine Kriegs-
verwundung so eindrucksvoll, daß eine Frau im Auditorium in Ohnmacht fiel. Bei der
Vorbereitung der Atlantis-Ausgabe ‚Spur im Treibsand‘ von 1956 fand ich den Anfang der
Erzählung, die jetzt ‚Ostern auf Zypern‘ heißt, in fünf oder sechs Exemplaren. Die ersten
Sätze glichen sich, danach nahm jede Version ihren verschiedenen Fortlauf, und ein Ende
gab es nicht. […] Ende 1938, als wir nach London flogen, kamen trotz des beschränkten
Gepäcks viele Manuskripte mit. Während der Kriegsjahre machte es Kokoschka von Zeit
zu Zeit Freude, an ihnen zu arbeiten. Sie sind ‚Dichtung und Wahrheit‘ im wahrsten Sinne
des Wortes.“80
Publiziert wurden Kokoschkas autobiographische Erzählungen erstmals 1956
in dem Band „Spur im Treibsand“. Auch in der Gesamtausgabe des schriftlichen
Werks aus den 1970er-Jahren waren sie vertreten.81 Eine Autobiographie verfasste
der Künstler allerdings zunächst nicht, wiewohl ihm schon früh bewusst war, dass
öffentliche Präsenz, auch in Form von möglichst vielen – und natürlich vorteilhaften
– biographischen Veröffentlichungen, wichtig für das künstlerische Renommee war.
Zweifellos sind Publikationen über einen Künstler zu Lebzeiten von großer Bedeu-
tung, sie vergrößern Bekanntheit, Ruhm und damit nicht zuletzt auch den Markt-
wert. Schon 1911 war Kokoschka verärgert darüber, dass über seinen Konkurrenten
Max Oppenheimer eine Monographie verfasst wurde:
„Jetzt wird dieser Gauner [Anm.: Oppenheimer] dieselbe Geschichte machen wie in
München, wo er mit meinen Kopien Sensation erregte, weil mich niemand kennt und
ein gewisser Dr. Rössler82 ihm eine Monographie geschrieben hat, damit der Schwager
des Rössler, ein Dr. O. Reichel83 die 30/40 Bilder, die er zu 40 fl. gekauft hat, losbringt.“84
80 Olda Kokoschka, Wie O. K. seine Geschichten erzählte, in: Heinz Spielmann (Hg.), Oskar Ko-
koschka. Das schriftliche Werk. Bd. 2: Erzählungen, Hamburg 1974, 391–392.
81 Kokoschka, Spur im Treibsand; Spielmann, Schriftliches Werk, v.a. Bd. 2.
82 Arthur Rössler (1877–1955), österreichischer Kunstkritiker, Verfasser zahlreicher Künstlerbiogra-
phien. Über Oppenheimer liegt keine Biographie Rösslers vor, möglicherweise handelt es sich um
die Monographie Wilhelm Michel, Max Oppenheimer, München, Leipzig 1911.
83 Oskar Reichel (1869–1943), Arzt und bedeutender Sammler der österreichischen Moderne. Die
Sammlung Reichel wurde 1938 enteignet, viele Werke daraus sind gegenwärtig Gegenstand von
Restitutionen nach dem österreichischen Kunstrückgabegesetz von 1998. Vgl. u.a. Sophie Lillie,
Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, 936–943.
84 OK an Herwarth Walden [Wien, Mai/Juni 1911], zit. nach: Oskar Kokoschka, Briefe I. 1905–1919.
Hg. von Olda Kokoschka/Heinz Spielmann, Düsseldorf 1984, 20.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463