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„Bei allen guten Eigenschaften, die ich dir gerne creditiere bis auf weiteres, eine hast du
nicht. Diese ist: zu sehen was ein Künstler ist zum Unterschied von einem Bürger, welcher
seinerseits Einflüsse, Vorbilder, Vorgesetzte braucht, um sich danach zu orientieren, wie
der Käfer mit seinen Gesichtsborsten und Kopffühlern. Nach Deiner Beschreibung hätte
ich zumindest mein Leben lang in Museen und Bibliotheken und Akademien vegetieren
müssen, statt das zu tun was ein jeder origineller Künstler einzig und allein treibt – sich
vom Leben treiben zu lassen und die Augen dort aufzumachen wo es ihn und den Kunst-
berichterstatter zwingt hinzuschauen.“89
Die Biographin wird als „Backfisch aus Prag“ in Bezug auf fast jeden von ihr ge-
schriebenen Satz zurechtgewiesen und abschließend darauf aufmerksam gemacht,
dass die Biographie nur unter der Bedingung erscheinen könne,
„dass alle meine hier angeführten Korrekturen, von mir angezeichneten Auslassungen,
ebenso wie Zufügungen von meiner Hand, getreulich beobachtet sind und dass der Ab-
druck als in diesem, meinem Wunsche gemässen, Sinn erfolgt“.90
Diesem Diktum musste sich die Biographin beugen. Mit viel Geschick hat es Edith
Hoffmann geschafft, in dieser Konstellation nicht komplett degradiert zu werden,
indem sie Kokoschkas Interventionen als direkte Zitate gekennzeichnet in Form von
Fußnoten einfügte und damit ihren und seinen Text unterscheidbar machte.91
Ähnlich wie Kubin, wenn auch mit anderem Hintergrund und anderen Strate-
gien, lebte Kokoschka somit nicht bloß „in anticipation of one’s biographers“,92 in-
sofern als er BiographInnen nicht „antizipierte“, sondern aktiv requirierte und sein
biographisches Narrativ mit diesen aktiv „verhandelte“, um nicht zu sagen diktierte.
So meinte Edith Hoffmann denn auch, bei „Life and Work“ wäre ein Missverständ-
nis vorgelegen, da sie das Projekt als „Biographie“, Kokoschka hingegen es als „Auto-
biographie“ verstanden hätte.93 Eine tatsächlich als solche bezeichnete „Autobiogra-
phie“ publizierte Kokoschka erst viele Jahre später. Sie trägt den Titel „Mein Leben“
und wird im Folgenden näher betrachtet.
89 ZBZ, NL O. Kokoschka, Karton 632, Fasz. 632.1.2, fol. 15.
90 ZBZ, NL O. Kokoschka, Karton 632, Fasz. 632.1.2, fol. 62.
91 Vgl. Hoffmann, Kokoschka; Bonnefoit, Kunsthistoriker vom Künstler zensiert.
92 Pletsch, Autobiographical Life, 415.
93 „[…] this book was never conceived by me as his ‚autobiography‘, as he calls it in one of his letters,
but as a biography by me “. Edith Hoffmann an den Verleger Herbert Read, 25.6.1944, zit. nach
Bonnefoit, Kunsthistoriker vom Künstler zensiert, 174.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463