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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 113
Augen reichen viel weiter als die Arme, mit den Augen begreift man erst die Welt! […]
Soweit ich zurückdenken kann, habe ich immer im Raum gelebt und nicht in der Zeit.“101
Die Betonung der Bedeutung des Sehens zeigt auch die zeitgenössische Veranke-
rung des Autobiographen, die Bedeutung des stets zeitgebundenen point of view des
Rückblickens, war doch Kokoschka zum Zeitpunkt der Erstellung von „Mein Leben“
bereits mit seiner 1953 in Salzburg gegründeten „Schule des Sehens“, einem Som-
merkurs für junge KünstlerInnen, bekannt geworden. Der Verweis auf den bereits
visuell ausgerichteten Knaben nahm damit auch einen logischen Leitfaden auf, der
den gesamten Lebenslauf durchzieht.
Die biographische Formel von der frühen Begabung geht Hand in Hand mit der
ebenso typischen Erzählung der Entdeckung derselben. In einer Variation von Va-
saris „Hirtenmotiv“ war es im Falle Kokoschkas der Gymnasialzeichenlehrer, der
die Begabung des Schülers erkannt und dem er auch das Bestehen der Matura zu
verdanken hatte.102
Die Beschreibung der Eltern in Kokoschkas autobiographischer Darstellung weist
in manchen Grundzügen Ähnlichkeiten mit jener Alfred Kubins auf, vor allem in
der Grundaussage, der Mutter wesentlich näher gestanden zu haben als dem Vater.
„Das Gefühl zur Mutter ist ursprünglicher, intensiver und näher. Zuerst sieht man die
Mutter gar nicht, man fühlt sie nur. Man lebt ja noch von der Mutter, auch wenn man
ihren Leib verlassen hat, von ihrer Wärme, Berührung, Zärtlichkeit, wie von ihrer Milch.
[…] Mein Vater war mir nie sehr nahe, doch hat er in einer ganz anderen Weise als meine
Mutter auf mich gewirkt.“103
Nicht in der Autobiographie erwähnt wurde das von Kokoschka an anderer Stelle als
besonders prägend beschriebene Erlebnis der Geburt eines jüngeren Geschwisters,104
die ihn nach seinen eigenen Angaben nachhaltig in seiner sozialen Beziehung zu
anderen verstört habe. In Bezug auf den Vater verwies Kokoschka in der Autobio-
101 Kokoschka, Mein Leben, 32.
102 Kokoschka, Mein Leben, 45.
103 Kokoschka, Mein Leben, 31.
104 In einem Brief an seinen Freund Erwin Lang schilderte der damals knapp über Zwanzigjährige,
als Kind dabei gewesen zu sein, als seine Mutter gebar. OK an Erwin Lang [Wien Februar/März
1908], zit. nach Kokoschka, Briefe I, 9. Meist wird davon ausgegangen, dass es sich dabei um die
Geburt des Bruders Bohuslav gehandelt habe, was aber nicht gesichert scheint. Wenig konkret als
„unangebrachte Entdeckung“ berichtete Kokoschka von diesem Erlebnis auch in einem Brief an
Alma Mahler: OK an Alma Mahler, 3.1.1913, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 69.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463