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werden müsse. Der in Kokoschka-Darstellungen gezogene Schluss, der Künstler
habe wegen des Skandal-Stücks die Schule verlassen müssen,120 ist aber nicht korrekt
und wurde auch von Kokoschka in der Autobiographie relativiert, indem er darauf
verwies, dass zu diesem Zeitpunkt seine Jahre an der Kunstgewerbeschule ohnehin
bereits abgeschlossen gewesen seien.
Das nächste und dritte Kapitel, das in der Autobiographie folgt, ist überschrieben
mit „Meine frühen Bilder“. Es enthält recht allgemeine Betrachtungen kunsthistori-
scher Natur, speziell zur Porträtmalerei, die im Mittelpunkt von Kokoschkas ersten
Künstlerjahren stand. Im Konkreten schilderte Kokoschka hier das Milieu, in dem
er sich in Wien in den Jahren bis etwa 1910 bewegte, aus dem seine ersten Porträt-
modelle und Kunden kamen und deren Bekanntschaft er vor allem über die Ver-
mittlung seines Freundes, des Architekten Adolf Loos, gemacht hatte.
„Meistens waren es Juden, die mir als Modell dienten, weil sie viel unsicherer als der üb-
rige Teil der im gesellschaftlichen Rahmen fest verankerten Wiener und daher für alles
Neue aufgeschlossener waren, viel empfindlicher auch für die Spannungen und den Druck
infolge des Verfalls der alten Ordnung in Österreich. Dank ihrer geschichtlichen Erfah-
rungen urteilten sie hellsichtiger über Politik und auch über Kultur.“121
Kokoschka schilderte die legendäre Kaffeehauswelt des Wiener Fin de Siècle mit
ihren bekannten Figuren wie Adolf Loos, Karl Kraus („Mit dem Tod von Karl Kraus
war das unabhängige Denken in Österreich zu Ende“)122 oder Peter Altenberg. Ko-
koschka lernte offenbar rasch, sich in dem Milieu zu bewegen und habituell anzu-
passen. In den Erinnerungen heißt es:
„Ich war indessen selbstbewußter geworden und meine allgemeine Erscheinung an-
spruchsvoller. Dazu gehörte auch eine korrekte Kleidung. Darauf hat Loos immer gese-
hen. Ein moderner Mensch darf nicht pittoresk wirken. Der Gentleman in England war
sein Vorbild.“123
In der Autobiographie folgt als vierter Abschnitt das Kapitel „Berlin“. Es beginnt mit
dem Satz: „Es spielte keine Rolle für mich, wo ich hinfuhr. Nur aus Wien heraus!“124
Kokoschka ging zunächst nach München, wo er sich nach „einer Anwandlung von
120 U.a. bei Schorske, Wien, 341.
121 Kokoschka, Mein Leben, 70 f.
122 Kokoschka, Mein Leben, 77.
123 Kokoschka, Mein Leben, 82.
124 Kokoschka, Mein Leben, 97.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463