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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 121
bedrückt zugleich. Erstens hatte ich bisher noch nie ein weibliches Wesen gemalt, das auf
den ersten Blick in mich verliebt zu sein schien, und andererseits hatte ich eine gewisse
Scheu: Wie konnte einer Glück erwarten, da kurz vorher ein anderer gestorben war.“131
Nach Kokoschka war es somit Alma Mahler, von der die Initiative zum näheren
Kennenlernen ausgegangen sei, und es sei auch sie gewesen, „die auf den ersten
Blick […] verliebt zu sein schien.“ Dies steht im Gegensatz zur Darstellung in Alma
Mahlers Autobiographie, die einige Jahre zuvor erschienen war.132 Kokoschkas Er-
innerungen lesen sich auf weiter Strecke als indirekte Antwort auf diese Veröffentli-
chung. Ohne Hintergrundwissen sind seine Erzählungen zu diesem Thema schwer
verständlich, da sie im genannten Sinn vor allem replizierend angelegt sind. Nach
der oben zitierten Passage hieß es in direkter Bezugnahme auf Alma Mahlers Me-
moiren weiter:
„Eine sehr passionierte Beziehung begann nun; sie hat drei Jahre lang angehalten. Da ich
erst jetzt die Lebensgeschichte, die Alma publiziert hat, durchblättere, sehe ich, daß sie
mich bis zum Ende nicht vergessen konnte. Ich muß gestehen, auch für mich hat es Zei-
ten gegeben, da ich mir nicht vorstellen konnte, ohne sie leben zu können. [...] In ihrem
Buch lese ich, wie sie meine Herrschsucht beklagt und daß ich sie wie eine Gefangene
bewachte und ihr nicht mehr erlaubte, andere Menschen zu sehen. Zu meiner Rechtfer-
tigung möchte ich sagen, daß ihre Einwände mir damals bedeutungslos und trivial schie-
nen. Sie muß das gleiche gefühlt haben, sonst wäre sie nicht bis zur Zeit, als ich mich
nach Kriegsausbruch als Freiwilliger zur Armee gemeldet hatte, in ihrer leidenschaftlichen
Hingabe befriedigt gewesen. Sie schreibt, ich hätte ihr Leben erfüllt und zugleich zerstört.
Das letztere war sicher nicht meine Absicht.“133
Dieser Passus führte weiter, was mit der einleitenden Beschreibung ihres Kennen-
lernens schon grundgelegt wurde: Kokoschka teilte Alma Mahler die Rolle jenes
Parts der Beziehung zu, der stärker am Partner hing („daß sie mich bis zum Ende
nicht vergessen konnte“). Seine eigene Fixierung auf die Liebesbeziehung kam aber,
wenn auch etwas relativiert, ebenfalls zum Ausdruck. („Ich muß gestehen, auch für
mich hat es Zeiten gegeben, da ich mir nicht vorstellen konnte, ohne sie leben zu
können.“) Der weitere Fortgang der Erzählung wirkt sehr unstrukturiert – kurze
131 Kokoschka, Mein Leben, 123.
132 Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, Frankfurt am Main 1993 [EA 1960]. Dort heißt es: „Wir standen
auf – und er umarmte mich plötzlich stürmisch. Diese Art der Umarmung war mir fremd … Ich
erwiderte sie in keiner Weise, und gerade das schien auf ihn gewirkt zu haben.“ Ebd., 56.
133 Kokoschka, Mein Leben, 123.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463