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„Man war nicht gerüstet, und Schlamperei war üblich in Österreich-Ungarn. Man rüstete
sich nur zum Sterben.“149
Kokoschka erläuterte im Folgenden ausführlich seine Erlebnisse im Kriegseinsatz in
Galizien bis zu seiner schweren Verwundung im Sommer 1915. An dieser Stelle un-
terscheidet sich die publizierte Autobiographie besonders stark von der ersten Fas-
sung: Anstelle der ursprünglichen Erzählung über die Verwundung, die Kokoschka
seinem Mitautor Remigius Netzer gegeben hatte und die im ersten Typoskript von
diesem festgehalten ist,150 wurde in der Autobiographie schließlich ein Ausschnitt
aus Kokoschkas früherer Erzählung „Jessika“ eingefügt, in der er in expressionisti-
schem Sprachstil seine Kriegsverwundung schilderte.151 Nach dem Krankenurlaub,
der der Verwundung folgte, wurde Kokoschka im Sommer 1916 als Kriegsmaler im
Dienst des k. u. k. Kriegspressequartiers an die Isonzofront geschickt. In seiner Au-
tobiographie schrieb er in diesem Zusammenhang davon, als „Verbindungsoffizier“
eine Gruppe von Journalisten und Künstler an die Isonzofront begleitet zu haben.152
Bei der Sprengung einer Brücke erlitt er nach eigener Aussage einen shell shock.153.
Damit endet in der Autobiographie das Kapitel „Krieg“, obwohl dieser noch nicht zu
Ende war, weder allgemein noch für Kokoschka.154
Das nächste Kapitel mit dem Titel „Stockholm und Dresden“ ist damit mehr
einer räumlichen denn zeitlichen Zäsursetzung verpflichtet: Nicht 1918 und das
Kriegsende stellen die Zäsur dar, sondern der 1916/17 vollzogene Ortswechsel nach
Dresden. Zunächst setzt die Erzählung aber ein mit Kokoschkas Verlegung von der
Isonzofront nach Wien, wo er der zeittypischen Behandlung seiner Shell-Shock-
Symptome unterzogen wurde, die aus Elektroschocktherapien bestand und den
Künstler in einen Zustand äußerster Verzweiflung versetzte. Während einer Freistel-
lung, die er in Berlin verbrachte, geriet er an den Arzt Fritz Neuberger, der ihn zu
einem Aufenthalt im Sanatorium Dr. Teuscher in Dresden überredete. Nicht in der
publizierten Fassung der Autobiographie aufgenommen ist eine in der ersten Fas-
149 Kokoschka, Mein Leben, 139.
150 Vgl. ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz. 81.9.
151 Vgl. ausführlich im Kapitel 4.2.2.
152 Zur Tätigkeit Kokoschkas als Kriegsmaler im Sommer 1916 vgl. Bonnefoit/Held, Vom Kriegsmaler
zum Pazifisten. Ausführlicher dazu im Kapitel 4.2.2.
153 Kokoschka, Mein Leben, 157. Zur Thematik shell shock oder dem Phänomen von „Kriegszitterern“
vgl. ausführlich im Kapitel 4.2.2 sowie Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Moderni-
tätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004.
154 Auch hier eine Abweichung zur ursprünglichen Fassung, in der das Kapitel „Im Krieg“ auch noch
die Rekonvaleszenz in Dresden und Stockholm beinhaltet. Vgl. ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz.
81.9.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463