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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 129
Von der akribischen Vorbereitung und Anfertigung der Puppe, dokumentiert in ei-
nem ausführlichen Briefwechsel von Kokoschka mit der Puppenmacherin, findet
sich in der Autobiographie ebenso wenig wie von der Enttäuschung darüber, dass
die fertige Puppe nicht annähernd den Erwartungen entsprach.165
Der Puppen-Episode folgt im Dresdener Kapitel abschließend noch eine politi-
sche Erinnerung. In den Wirren der deutschen Revolution ließ Kokoschka in den
Straßen Dresdens ein Plakat affichieren, dessen Text er in der Autobiographie in
fast voller Länge wiedergab. Er hatte sich in diesem Aufruf in ironischer Diktion
gegen jegliche radikale politische Agitation gewandt, die seiner Meinung nach der
Kultur grundsätzlich entgegenstünde. Laut eigener Aussage hätten vierzig deut-
sche Zeitungen diesen Text gedruckt und er sei von links stehenden Künstlerkol-
legen wie George Grosz daraufhin als „Kunsthure Oskar Kokoschka“ diffamiert
worden.166 Wieder positionierte sich Kokoschka in der Rolle des rebellischen Au-
ßenseiters, diesmal nicht nur von der konservativen bürgerlichen Elite, sondern
auch von linken Künstlerkollegen verfolgt. Halt habe ihm ausschließlich die Kunst
gegeben, vor allem regelmäßige Museumsbesuche und das Betrachten der alten
Meister:
„In jener Zeit, als draußen keine Ordnung mehr herrschte, war es mir möglich, nur dank
den Künstlern, die verstanden hatten, ihre Erlebnisse in ein geistiges Leben einzuordnen,
einen Halt zu finden.“167
Das nächste Kapitel „Reisen in Europa“ nimmt einen neuen Erzählfaden auf. Ko-
koschka berichtet, in Dresden erkannt zu haben, wie „europamüde“ er geworden
sei. Die politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland habe „sein Unbeha-
gen an der Zeit“ an einen Höhepunkt gebracht.168 Als sein Vater im Sterben lag, ver-
ließ er Dresden und fuhr nach Wien, kehrte aber dann nicht mehr zurück, sondern
begab sich auf ausgiebige Reisen. Die Erinnerungen in diesem Kapitel schweifen
herum zwischen Wien, der Schweiz, Venedig, Florenz, Paris, Südfrankreich, Spa-
165 Am 6.4.1919 schrieb Kokoschka an Moos: „Liebes Fräulein Moos, was wollen wir jetzt machen? Ich
bin ehrlich erschrocken über Ihre Puppe, die, obwohl ich von meinen Phantasien einen gewissen
Abzug zugunsten der Realität längst zu machen bereit war, in zu vielen Dingen dem widerspricht,
was ich von ihr verlangte und von Ihnen erhoffte. Die äußere Hülle ist ein Eisbärenfell, das für eine
Nachahmung eines zottigen Bettvorlegerbären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und
Sanftheit einer Weiberhaut.“ Zit. nach Kokoschka, Briefe I, 312.
166 Kokoschka, Mein Leben, 176. Ausführlicher zu dieser Debatte im Kapitel 4.3.1.
167 Kokoschka, Mein Leben, 178.
168 Kokoschka, Mein Leben, 187 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463