Page - 130 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 130 -
Text of the Page - 130 -
| 2 KünstlerInnen über
sich130
nien, Holland und England. Im Jahr 1928 startete Kokoschka von Marseille aus die
Reise in den lang ersehnten Orient, diese findet im Kapitel „Zu den Grenzen des
Abendlands“ ihre Schilderung.
Mit dem Kapitel „Prag“ wird eine neue Zäsur definiert. Das Kapitel beginnt mit
der Erzählung von den Februarunruhen von 1934 in Wien: „Dollfuß ließ Kanonen
auffahren – das hatte man in Wien noch nicht erlebt.“169 Während längere Ausfüh-
rungen über den von Kokoschka vermuteten Zusammenhang zwischen dem gesell-
schaftspolitischen Niedergang und einer allgemeinen Technisierung folgen, erfahren
wir nur wenig konkrete Hintergründe zur Übersiedlung Kokoschkas nach Prag. Nur
indirekt lässt sich auf die Gründe schließen: die Leitung der Wiener Kunstgewerbe-
schule sei ihm angetragen worden, Kokoschkas im Gegenzug eingeforderte Schulre-
form im Sinne von Comenius aber nicht durchsetzbar gewesen, somit nahm er diese
nicht an. Zudem sei Österreich schon ganz auf den „Anschluss“ an das Deutsche
Reich eingestellt gewesen. Von 1934 bis 1938 blieb Kokoschka also in Prag. Auch
über Olda Palkovska, die er in dieser Zeit kennengelernt und später geheiratet hatte,
geht aus der Autobiographie nur wenig hervor. Ihr Vater hatte Kokoschka eingela-
den, weil er sich für dessen Werk interessierte. So erfolgte die erste Begegnung, die
Kokoschka wie folgt schilderte:
„Bei einem Besuch in seinem Hause lernte ich seine Tochter Olda kennen. Sie wurde meine
Freundin. Sie studierte Jura und promovierte zum Doktor der Rechte, die ich scherzhaft
immer die Unrechte nannte. Ihrer Neigung nach wäre sie gerne Kunsthistorikerin gewor-
den. […] Ich erzählte ihr Geschichten, die ich später sogar niedergeschrieben habe, doch
sie behauptete noch nach Jahren, sie damals nicht verstanden zu haben, weil ich meinen
wienerischen Dialekt nie aufgegeben habe, während sie in der Schule das korrekte alte
Prager Hochdeutsch gelernt hatte. Doch wir verstanden uns recht gut.“170
Eine weitere wichtige Begegnung ist im Prag-Kapitel dokumentiert: jene mit Staats-
präsident Tomas Masaryk, den Kokoschka in jener Zeit porträtierte und mit dem er
nach eigener Aussage persönlich Freundschaft schloss. Eine weniger positive Bewer-
tung gab es im autobiographischen Rückblick für die Politik von Masaryks Nach-
folger, Edvard Beneš. Weitere – wenn auch nur relativ kurze – Erwähnung findet in
diesem Kapitel Kokoschkas in Deutschland 1937 erfolgte Diffamierung als „entar-
teter Künstler“. Nur in wenigen Worten wird erzählt, dass er den Auftrag zu einem
Selbstporträt dazu genutzt habe, dieses als „Selbstporträt eines entarteten Künstlers“
169 Kokoschka, Mein Leben, 225.
170 Kokoschka, Mein Leben, 232.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463