Page - 155 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente | 155
Kunst umsetzten. Dennoch waren das Arbeitsverhältnis und Kliens Aufenthalt in
Salzburg nicht ungetrübt. Die Künstlerin litt unter der Isolation und der Trennung
von ihren Wiener FreundInnen, die Schulleitung wiederum beklagte sich häufig
über Kliens „Unzuverlässigkeit“. Im November 1926 schrieb Klien an ihren ehema-
ligen Lehrer und Mentor Čižek:
„die Einsamkeit bringt so sonderbare Dinge zu Tage – daß ich mich manchmal selbst nicht
verstehe – ich glaube nicht daß ich das Talent habe lange hier zu bleiben –“ 243
Im selben Brief kündigte Klien an, demnächst ausführlich von ihrem Leben in Kleß-
heim zu berichten. Tatsächlich setzte sie dies auch um, in einer Serie ganz spezieller
„Briefe“, die sie selbst „Klessheimer Sendboten“ nannte. Es handelt sich dabei um
etwa A4-große Blätter, die in einer Verschränkung von Schriftelementen und kineti-
schen Graphiken Erlebnisse ihrer Salzburger Zeit darstellen. Selbstkritisch, zynisch,
hoch witzig und künstlerisch beeindruckend zählen diese Blätter zu einer Beson-
derheit im Œuvre der Künstlerin. Nicht zuletzt zeugen die „Sendboten“ auch von
Kliens literarischer Begabung und der Bedeutung des Schriftlichen in ihrem Werk.
Kleine Schüttelreime, Klanggedichte, kurze witzige Prosasequenzen gehen mit den
Graphiken eine künstlerische Allianz ein.244
Nicht nur künstlerisch, auch als historisches Dokument in Bezug auf die Lebens-
umstände einer jungen, unverheirateten, um ihre Selbständigkeit und Anerkennung
kämpfenden Künstlerin sind die „Klessheimer Sendboten“ an Originalität kaum zu
übertreffen. Nach Aussagen ehemaliger StudienkollegInnen war Klien schon an der
Kunstgewerbeschule eine selbstbewusste und eigenständige Persönlichkeit, der es
gelang, „ihr Privatleben zu einem Abenteuer von dramatischen Liebesgeschichten
und Exaltationen zu gestalten und sich vor allem für jüngere Kollegen zum rätsel-
haften, exzentrisch gekleideten Klassenstar zu stilisieren.“245 Ein ähnliches Bild zeigt
sich bei der Betrachtung der Blätter der „Klessheimer Sendboten“. Klien findet sich
darauf dargestellt als Prototyp einer jungen, selbstbewussten Frau der 1920er-Jahre
mit Bubikopf und Zigarette, als weitere Figuren tauchen zahlreiche FreundInnen
und KollegInnen aus ihrem Wiener und Salzburger Umfeld auf.
243 Wienbibliothek, NL Čižek, Sch. 4, EGK an Franz Čižek, Salzburg-Kleßheim 14.11.1926.
244 In weniger ausgeprägter Form gilt diese Allianz von Kunst, Schrift und Literatur auch für Kliens
„normale“ Briefe, die v.a. in den 1920er-Jahren formal stark gestaltet sind und von literarischer
Begabung zeugen.
245 So Marietta Mautner Markhof unter Berufung auf Interviews mit den Studienkollegen Walter Har-
nisch, Elisabeth Karlinsky u.a. Vgl. Mautner Markhof, Erika Giovanna Klien, 19
ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463